Les cent et uns nuits (Hundertundeine Nacht) von Agnès Varda. Frankreich/England, 1994. Michel Piccoli, Julie Gayet, Mathieu Demy, Marcello Mastroianni, Henri Garcin
Eine Liebeserklärung an das Kino selbstverständlich, und auch ein Film für alle, die das Kino ebenso lieben und auch ein wenig kennen, denn eine kleine oder wahlweise auch größere Portion Knowhow ist sehr förderlich für den eigenen Spaß. So schaut man zu, erkennt all die Gesichter, die kurzen Filmschnipsel, versteht die eine oder andere Anspielung, das Zitat, die Hommage, und nimmt ganz anders Teil an diesem Ereignis, das sicherlich des Anlasses würdig ist. Michel Piccoli als Monsieur Cinéma, hundert Jahre alt haust er in seinem Schloss, umgeben von Erinnerungen, angefüllt mit Anekdoten und ständig wechselnden Identitäten. Sein Leben ist ein einziger großer Kinofilm, der sie alle umfasst, alle einschließt, die Quintessenz aus hundert Jahren Kino. Er ist eitel, erotoman, nostalgisch, launisch, schwärmerisch, mal der ewig junge Verführer und Liebhaber der Frauen, dann wieder der lästernde alte Greis, aber in jedem Fall braucht er Geschichten vom Kino, um überhaupt weiterleben zu können. Dazu stellt er eine junge Studentin ein, die ihm die Stichworte, die kleinen Rätsel und Herausforderungen liefern soll. Camille hat einen Freund, der Filme machen möchte und Monsieur Cinémas Vermögen angraben will. Man zaubert den verloren geglaubten Enkel des alten Herrn in Form eines gedungenen Schauspielers hervor, und der Schwindel nimmt seinen Lauf, um letztlich dann doch zu scheitern. Varda erzählt diese zwei Geschichten, die des alten Schlossherrn und die der jungen Leute im modernen Paris. Ich hätte ganz gut ohne die letztgenannte auskommen können, obwohl auch die jungen Leute sehr charmant gespielt werden, zumal Piccoli und die Geister, die er ruft, genügend Attraktionen parat halten. Man gibt sich bei Monsieur die Klinke in die Hand: Depardieu, Delon, Belmondo, de Niro, Moreau, Schygulla, Ardant, Aimée, Deneuve, Azéma und wie sie alle heißen. Nur Mastroianni als der italienische Freund hat eine beständige Rolle und wetteifert um die Gunst der schönen Camille und darum, wer die meisten Verehrer hatte. All diese ganzen Geplänkel sind nett und hübsch anzusehen, und daneben hat Varda noch einige charmante inszenatorische Finessen eingebaut, hat sehr lebendig, locker, heiter Regie geführt, lässt Kinder die Zwischenansagen machen und füllt auch den Hintergrund immer auf mit Anspielungen, die man dann zur eigenen Erbauung mitraten darf. Bei alledem fasziniert dieser Film natürlich vor allem deshalb, weil er uns so unvergleichlich schön vor Augen führt, warum eigentlich wir das Kino so lieben, die Magie der Gesichter, die Aura der unvergessenen Melodien, den Sog der hypnotischen Bilder, das wiederbringliche Gefühl großer Momente. Endgültig scheint der Film das umfassend adäquate Medium für dieses zwanzigste Jahrhundert zu sein, das umfassendste, komplexeste, ohne Literatur und Musik zu nahe treten zu wollen. Aber der Film kombiniert sie nun mal, sie Sinnesreize, er schafft es sowohl auf musikalischem als auch auf rein optischem Wege, uns an besondere Dinge in unserem Leben zu erinnern, unsere Träume oder Alpträume auszudrücken, Abscheu, Lust, Spannung oder Entspannung in großer Intensität freizusetzen. Varda huldigt den Großen, den Buñuels, Hitchcocks, Welles, Truffauts, Renoirs, aber sie liebt auch das populäre Kino, die Glamourstars, die Musicals, Western, Krimis und andere. Sie erinnert an Anekdoten und Kuriositäten, an Klatsch und Tratsch aus der Filmgeschichte, und plötzlich wird einem auch als Zuschauer deutlich, welchen Platz all diese Geschichten und Film in jedermanns Leben einnehmen, in einem sicherlich mehr, im anderen weniger, aber auf die eine oder andere Art sind sie alle präsent und nicht mehr wegzudenken.
Vardas eigener Film ist gelegentlich etwas unausgeglichen, aber wenn er sich auf Piccolis Monsieur Cinéma, seine Schrullen und Geschichten konzentriert, dann wird er ganz zu der wunderbaren Huldigung an dieses wunderbare Medium, die man sich gewünscht hatte. Mit etwas Optimismus könnte man jetzt auf die nächsten hundert Jahre anstoßen, aber man weiß nicht so recht. Außerdem stellt sich viel realistischer die Frage, ob es dann auch noch so viele großartige Gesichter und Charakterköpfe geben wird, wie die die sich hier zum Gratulieren versammelt haben. (30.10.)