L’homme sur les quais (#) von Raoul Peck. Haiti/Kanada/Frankreich, 1993. Jennifer Zubar, Toto Bissainthe, Jean-Michel Martial, Patrick Rameau
Eine Kindheit Auf Haiti in den Sechzigern: Duvalier und seine Schergen sitzen fest im Sattel, die Tonton Macoute terrorisieren das Land, wüten mit unerhört brutaler Willkür, morden, misshandeln, vergewaltigen. Wer abends noch auf den Straßen ist, muss damit rechnen, von einer Patrouille entführt, umgebracht oder zumindest geschlagen zu werden. Sarah erinnert sich. Ihr Vater war auch beim Militär, aber, wie ihre Tante sagt, einer von den Naiven, die noch für so etwas wie Recht und Ordnung eintraten und deshalb nicht ins System passten. Die Mutter floh irgendwann aus dem Land, und immer mal wieder hören Sarah und ihre Gro0ßmutter, bei der sie noch immer lebt, etwas von ihr. Eines Tages wird die Großmutter dann auch verschleppt, verschwindet für immer. Sie hatte Sarah immer zu erklären versucht, dass all dies nur ein böser Traum war.
Erinnerungen funktionieren nicht geradlinig, nicht berechenbar. Sie tauchen jäh auf, entzünden sich an einem Detail, einem Geräusch, einem Wort, einer Stimmung. Es gibt schlimme Alpträume, Assoziationen und jene schrecklichen Bilder, die immer wieder kommen. Dieser Film liefert ein beeindruckendes Zeugnis dieser Kindheitserinnerungen, er ist einerseits ungeheuer sensibel und feinfühlig, geht mit Stimmungen, mit Farben und Bildern gefühlvoll und mit großer Intensität um. Andererseits vermittelt er, ohne dass wir über politische und historische Details sehr viel wissen müssten, ein erschreckend eindrückliches Gefühl vom Leben in einer Diktatur. Die praktisch ständige Furcht vor den jederzeit möglichen Übergriffen der Militärs, die sich ihrer Macht mit offensichtlicher Geilheit und Blutrünstigkeit bedienen, war ebenso an der Tagesordnung für Sarah, wie der Versuch, zu begreifen, was überhaupt vor sich ging. Aus ihrer Perspektive erlebt man eine bedrohliche, kaum verständliche Welt, in der die Menschen nicht immer so handeln, wie es nachvollziehbar wäre. Es gibt die Bösen, die recht klar erkennbar sind, es gibt die Opfer, die Gefolterten, aber es gibt auch jene, die zwischen den Polen stehen, wie eben der Vater, der zwar eine Uniform trägt, aber andererseits für willkürliche Gewalt nicht viel übrig zu haben scheint. Auch er hat eine Pistole und hat mit Sarah Schießübungen gemacht. Doch er setzt diese Waffe scheinbar anders ein als Janvier, der dunkle, bösartige, dämonische Polizeichef, der den Vater abgelöst hat und nun seinen Terror verbreitet. Diese Abstufung zwischen den Tonton Macoute und anderen Uniformträgern bereitet Sarah ebensolche Probleme, wie das alltägliche Überleben. Denn eines macht der Film auch unmissverständlich klar: In einer Diktatur kann es eigentlich nur darum gehen, erst recht für Kinder. Ihre Macht- und Hilflosigkeit, wie auch die der allermeisten Menschen, wird beklemmend deutlich, sie sind ausgeliefert, allein von den Launen der Diktatoren abhängig, und wenn es denen gefällt, sind sie morgen tot. Manche Szenen fahren einem direkt in den Magen, so beängstigend dicht sind sie gestaltet, so unvermittelt bricht aus den fast poetischen Schilderungen die Bedrohung, die Gewalt. Mal erscheint es, als könne der schützende Kreis der Familie, des großmütterlichen Heims, diese Gewalt draußen halten, doch dann dringen die Schergen plötzlich bis auf den Dachboden vor, in Sarahs intimste Welt, in die Welt ihrer Spiele und Träume, und demonstrieren ihr somit, dass vor ihnen nichts und niemand nirgendwo sicher ist.
Ein sehr eindrucksvoller, sehr eindringlicher Film, der sich wie alle wirklich guten Filme gegen eine Diktatur keine heroischen Gesten leistet, weil er selbst genau weiß, dass er zu spät kommen muss, letztlich nur ein nachträglicher Protest sein kann, bestenfalls eine Warnung für die Zukunft. Ein Stück haitianischer Geschichte, das macht Sarah klar: Ihre Kindheit ist die vieler anderer, ihre Geschichte haben so oder so ähnlich auch erleben müssen. Selten jedoch wurden persönliche Momente und die von außen hereinbrechende Historie überzeugende und dichter verknüpft als in diesem Film, dessen große visuelle Schönheit einen nur noch schmerzhafteren Kontrast zu allem anderen bildet. Mit anderen Worten: Der erste wirklich sehr gute Film des Jahres. (10.2.)