"Mary Reilly" (#) von Stephen Frears. England/USA, 1995. Julia Roberts, John Malkovich, George Cole, Glenn Close, Michael Gambon
Es war einmal im viktorianischen London, in jenem neblig-grauen, naßkalten, steinern-düsteren Postkutschenlondon, dessen Vorstellung uns bereits wohlig erschauern läßt. Mary Reilly ist Dienstmädchen bei einem gewissen Dr. Jekyll. Bald lernt sie dort des Doktors Assistenten kennen, einen rüden Burschen namens Hyde. Der eine behandelt sie behutsam, zuvorkommend, einfühlsam, der andere stellt ihr dreist und unverblümt nach. Am Schluß sind beide tot und Mary hat sich endlich ihre eigenen Gefühle eingestanden.
Ein stilvolles, dunkles und elegant gefilmtes Kammerspiel, ein Schauspielerfilm auch, der die klassische Mär aus einem etwas anderen Blickwinkel erzählt. Der dämonische Arzt und die schüchterne Magd, ein Paar, das viele Klischees verspricht, aber Frears hat dennoch für Tiefgang und Spannung gesorgt, hat die Beziehung zwischen den beiden mit allerlei interessanten und recht komplexen Komponenten beladen. Natürlich nimmt sich Hyde dem Mädchen gegenüber all das heraus, wonach sich Jekyll insgeheim gesehnt hat. Auch hier sind beide Figuren einander ergänzende Teile einer Persönlichkeit: Der eine ist kultiviert, gebildet und gesellschaftlich akzeptiert, unterdrückt aber all seine Wünsche und Triebe. Die lebt der andere für ihn aus, nimmt damit aber gleichzeitig Ächtung und Verfolgung auf sich. Obwohl Jekyll und Hyde an sich nicht mal im Zentrum des Films stehen, wird einmal mehr der faszinierende Gedanke dieser Konstruktion deutlich. Malkovich ist Spezialist für solche Sachen und er liefert eine gute, angenehm gedämpfte aber zugleich auch nicht gerade überraschungsreiche Darstellung. Immerhin verzichtet man dankenswerterweise auf dumme Makeuptricks, außer in der überflüssigen und sehr nach Mr. Cronenberg riechenden Verwandlungsszene am Schluß. Julia Roberts ist ebenso ideal als das scheue, zarte, zerbrechliche und sensible Reh, an dessen feinem Gesicht sich die Kamera regelrecht festsaugt, weil es eben auch das einzig Schöne in dem ganzen Film ist. Auch Roberts bringt wenig Varianten ein, ist aber durch ihre recht eindrucksvolle Präsenz auch nicht darauf angewiesen. Mary leidet unter alptraumartigen Kindheitserinnerungen, an Mißhandlung, Bestrafung, Quälereien durch den sadistischen Vater (Michael Gambon, wie auch Glenn Close als Puffmutter, in einer leider wenig liebevoll ausgemalten Nebenrolle). Ihre Angst vor allem Weltlichen, Körperlichen findet bei Jekyll Verständnis, nicht aber bei Hyde, der sie permanent belästigt. Einerseits scheint sie die Wahrheit über die beiden Männer zu ahnen, andererseits jedoch möchte sie die beiden gern trennen, möchte nicht zulassen, daß beide Teile zusammen gehören. Zudem scheint auch sie gelegentlich vorsichtige erotische Empfindungen zu verspüren, wofür ihr wiederum Hyde als Alibi dienen kann. Ihr Entsetzen angesichts der Bluttaten des Unholds kann ihre eigenartige Neugier, ihren Drang nach weiteren Entdeckungen nicht bremsen, auch nicht ihre stille Komplizenschaft mit Jekyll, den sie vor den anderen Bediensteten deckt. Ein echter Fall von den sprichwörtlich tiefen stillen Wassern könnte man wohl sagen, und still und tief ist auch dieser Film. Er hat nicht die Lebendigkeit der anglo-irischen Frearsfilme (der neue, wieder nach Roddy Doyle, ist ja wohl schon in der Mache), aber die wäre hier auch ganz unangebracht. Spannung wird hier vor allem durch die beachtliche atmosphärische und psychologische Dichte erzeugt, auch wen die Geschichte an sich bekannt ist und inhaltlich nicht sonderlich geändert wird. Mary Reilly könnte vielleicht exemplarisch zeigen, welche Wirkung Jekyll und Hyde in ihrer ebenso monströsen wie genial realistischen Zweiteilung auf die Menschen haben, ihr ängstlicher und zugleich faszinierter Blick ist auch der unsere. Oder so. Wohl nicht das Beste vom Herrn Frears, aber mit Sicherheit auch nicht das Schlechteste (6.5.)