Dear Wendy (#) von Thomas Vinterberg. Dänemark/Frankreich/England/BRD, 2005. Jamie Bell, Danso Gordon, Bill Pullman, Michael Angarano, Novella Nelson, Alison Pill, Chris Owen, Mark Webber
In diesem Jahr, dem zehnten seit der Gründung der Dogma-Gruppe, wird noch einmal viel und reichlich kontrovers über die Dänen um von Trier, Vinterberg und Kragh-Jacobsen und ihr Konzept geschrieben, und noch immer klingt die gleiche dumme Empörung darüber an, daß die Dogma-Gründer so bald daran gingen, ihre feierlich postulierten Grundsätze zu verletzen, und noch immer kapieren viele Schreiberlinge offenbar nicht, daß die Künstler selbst diese ganze Chose doch um Gottes Willen nicht in tierischem Ernst verstanden haben wollten, daß im Gegenteil vieles nur ein Spiel, ein Gedanke, ein Versuch war. Viele Meisterwerke haben wir diesem Spiel zu verdanken, den einen oder anderen mittelmäßigen Film zugegeben auch, und nun ist es nun mal soweit, daß sich die Gründerväter mehr oder weniger gründlich von der reinen Lehre angewandt haben und wieder „normale“ Filme machen. So what?
Von Vinterberg, der einst mit „Das Fest“ den vielleicht noch immer besten Dogma-Film gemacht hat, ist seither nichts gleichwertiges mehr gekommen (ist sowieso in zehn Jahren fast gar nichts gekommen!), in welchem Stil auch immer, und sein neuer Film, eine Kollaboration mit Lars von Trier als Autor, ist gelinde gesagt umstritten und auch mir fällt es spontan nicht so ganz leicht, eine Einstellung dazu zu formulieren. Schaue ich mir allerdings die Argumente der Gegner dieses Films an, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die brav entrüsteten Kritiker den hinterhältigen dänischen Taschenspielern einmal mehr auf den Leim gegangen und den abgründigen, rabenschwarzen Humor des gesamten Projekts nicht weit genug mitbedacht haben, weil er einfach weiter geht, als man es gewöhnlich von Satiren gewohnt ist. Wieso das noch immer passiert, ist mir schleierhaft, denn allgemein müßte Lars von Triers Hang zu Extremen in jeder Richtung hinlänglich bekannt sein. Dieser Herr von Trier hat sich offenbar vor längerer Zeit dazu entschlossen, von nun an so heftig und umfassend wie nur möglich auf die USA und die mannigfaltigen Phänomene dieses Landes einzudreschen, und diesmal hat er sich – nicht ganz neu – auf den wahrhaft grotesken Waffen- und Gewaltfetischismus der Amis eingeschossen und zu diesem Berufe eine mehr als merkwürdige Geschichte erdacht, halb klassischer Western, halb modernes Soziogramm um eine kleine Gruppe Jugendlicher, sämtlich Außenseiter in einer verödeten Kleinstadt, die sich die „Dandies“ nennen, ausdrücklich Waffen lieben und sie auch tragen, sie aber niemals gegen andere Menschen in der Öffentlichkeit richten, sondern sie nur privat in ihrer Behausung, einer alten Mine, benutzen wollen. In einer im Grunde ganz harmlosen, alltäglichen Situation ergibt sich dann eine jener Eskalationen, die uns aus amerikanischen Gewaltfilmen vertraut sind und die unweigerlich in einer wüsten Ballerei und mit viel Blutvergießen endet. Wobei, auch dies ein vertrautes amerikanisches Motiv, dieses Blutvergießen keinen anderen Sinn hat als den, daß ein Mann halt tun muß, was er tun muß oder Wenn und Aber und ohne sich noch einmal zu fragen, ob sein Tun in einer vernünftigen Proportion zum möglichen Ergebnis steht. Von Trier läßt den Gründer der Dandies, Dick, einen Brief an seine geliebte Pistole schreiben, die er Wendy nennt. Die jungen Leute haben zu ihren Knarren ein inniges, persönliches, durchaus erotisches und religiöses Verhältnis, ihr Kult nimmt absurde, lächerliche Züge an, so wie von Trier sie allgemein aus einer ziemlich distanzierten, kühlen, überlegenen Positionen heraus betrachtet, eine Schwäche, die mir den Film letztlich doch ein wenig verleidet hat und der Vinterberg als Regisseur nichts entgegensetzen kann als eine stilistisch perfekte, optisch elegante, letztlich aber wenig eigenständige Umsetzung, die sich ganz in den Dienst des kontroversen Drehbuchs stellt. Von Trier jongliert zum Teil brillant mit Versatzstücken typisch amerikanischer Klischees und Genremotive, er schnipselt Phrasen und Schlagworte zusammen, zitiert ausführlich aus der Popkultur, mischt gruselig detaillierte wissenschaftliche Arbeiten über Schußwunden unter und veranstaltet zum Schluß einen, wie ich fest glaube, bewußt überdrehten und grimmig brutalen Showdown zu höhnisch feierlichem Musikbombast, in dem er den verlockenden, gefährlichen Reiz kunstvoll arrangierter Gewaltbilder nachdrücklich zur Schau stellt. Prompt wird dem Film von fast allen Seiten vorgehalten, er verfalle am Schluß just jenem Mechanismus, den er zuvor erschöpfend kritisiert habe. Ich halte diese Kritik für verfehlt, glaube eher, daß von Trier und Vinterberg diesen Effekt voll einkalkuliert haben als Teil ihres Konzepts, was einerseits ziemlich drastisch ist und andererseits natürlich zu Mißverständnissen einlädt. Der Film funktioniert sowieso nur als Lehrstück, didaktisch, polemisch, intellektuell, er hat keine wirklichen Charaktere, keine wirkliche Story, er hat Typen, bzw. Stereotypen, Standardsituationen, Parodien, Zitate. Entsprechend wenig Chancen haben die ziemlich unscheinbaren Schauspieler, in diesem Konzept sonderlich zum Zuge zu kommen, wir betrachten sie mit der gleichen Distanz wie Regisseur und Autor, was sicherlich konsequent ist, mir persönlich aber nicht so gut gefallen hat. Ich verstehe zwar die Botschaft (oder glaube sie wenigstens zu verstehen), doch weckt der Film in mir keine Teilnahme, wenig Emotionen, weil er vor mir abläuft wie ein perfekt realisiertes und arrangiertes Gedankenspiel zweier streitbarer und scharfsinniger Denker, die aber nicht in der Lage waren oder es nicht sein wollten, ihr Anliegen so vorzubringen, daß wir auch gefühlsmäßig darauf reagieren können. Ich lese mit Vergnügen, daß der Film genügend provokatives Potential hat und das an sich ist ja schon eine nette Seltenheit dieser Tage, gebe aber gleichzeitig zu, daß ich ihn teilweise eher unbeteiligt angesehen habe - kein Vergleich mit „Das Fest“, aber vielleicht ist dieser Vergleich ja auch nicht fair. (16.10.)