Histoire de Marie et Julien (Die Geschichte von Marie und Julien) von Jacques Rivette. Frankreich, 2003. Emmanuelle Béart, Jerzy Radziwilowicz, Anne Brochet, Nicole Garcia

   Was täten wir nur ohne sie, die ollen Franzosen? Die Resnais, Rohmers, Chabrols und eben Rivettes dieser Welt, die auch bis hoch in ihre Siebziger noch immer dafür sorgen, daß ein gewisses Niveau gewahrt bleibt. Keiner dieser Herren hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren das Pulver neu erfunden, aber sie alle haben unermüdlich unverwechselbare, eigenwillige, charakteristische Filme gemacht, viele davon durchaus noch meisterlich, andere immerhin noch so, daß man die Handschrift der Meister jederzeit erkennen kann. Jacques Rivette zum Beispiel hat in den Neunzigern ein paar seiner großartigsten Filme gemacht: „Die schöne Querulantin“ zuallererst, seinen für meinen Geschmack besten überhaupt, dann den Johanna-Film oder auch „Geheimsache“, der uns schon ein wenig in Richtung auf diesen seinen jüngsten bringt. Denn ganz egal womit sich der Mann im Lauf der Zeit so im einzelnen beschäftigt hat, die fast jungenhafte und jedenfalls überaus sympathische Vorliebe für geheimnisvolle und skurrile Geschichten ist ihm niemals abhanden gekommen. Und da er diesem Faible gottlob nicht jedesmal über dreizehn Stunden wie in „Out 1“ frönt, kann man sich eigentlich nur freuen auf jede neue Ausgabe der Mysterien von Paris.

   Wie so oft beginnt auch hier alles ganz einfach und im Grunde schon ganz merkwürdig. Ein Mann und eine Frau lernen sich kennen und lieben, sie zieht zu ihm, ohne daß er viel von ihr weiß. Er erpreßt eine andere Frau damit, daß sie gefälschte chinesische Stoffe unter die Leute bringt, doch von dieser Frau geht dann doch keine Gefahr aus. Es gibt ein paar dunkle Träume, es gibt einen Raum oben unterm Dach, den sie sich nach ganz bestimmtem Muster einrichtet, und langsam kommen wir hinter ihr Geheimnis: Sie ist gar kein lebender Mensch mehr, sondern eine Tote, die wie viele andere Tote noch unerkannt unter den Lebenden weilt, die nicht blutet und die eigentlich keine Bindung auf Dauer eingehen darf. Die letzte Rettung, wenn die Lage dann doch mal ernst wird, wäre, einfach das Gedächtnis des anderen zu löschen, und das tut Marie schließlich auch.

 

   Dies ist natürlich kein Reißer mit irren Tricks und coolen Gags, dies ist ein Jacques-Rivette-Film, und das heißt vorneweg schon mal, daß er Geduld verlangt, denn unter zweieinhalb Stunden hat es dieser Typ ja fast nie gemacht. Auch diesmal nicht, und so benötigen wir einmal mehr Geduld und die nötige Fitneß, denn es geschieht hier rein gar nichts, das uns einfach so wach hielte. Rivettes Mystery- oder wenn man so will Fantasyfilme haben nichts mit dem Genre an sich gemein, außer daß sie unerklärliche, rätselhafte Ereignisse zeigen, die auch schon mal in den mystischen Bereich hineinreichen und an realistischen Erklärungen keinerlei Interesse haben. Wir müssen uns ganz einfach einlassen auf das, was wir sehen, müssen konzentriert bleiben, vor allem, und wenn all dies gegeben ist, werden wir einmal mehr fasziniert und amüsiert zusehen, wie meisterlich Rivette sein erotisches und ironisches Spiel entwickelt, wie sich allmählich aus zunächst unverfänglichen, ständig zwischen Traum und Realität wechselnden Szenen eine Struktur entwickelt, eine ganz leise Spannung, wobei wir anfangs auf die falsche Spur gelockt werden und Madame X mißtrauisch beäugen, bevor sich dann zunehmend irritierende Dinge um Marie abspielen. Marie und Julien erleben eine intensive, totale Liebe, die auch Zweifel, Ängste, mißtrauen in sich birgt, weil sie eben so total ist, die sie einerseits weiter gehen läßt., als sie vermutlich je gedacht hätten, die aber andererseits auch immer wieder Momente der Einsamkeit, der Unsicherheit erzeugt. Die beiden wirken mal sperrig und fremd, mal wieder ganz nah und intim, und Béart und Radziwilowicz spielen das natürlich ganz toll, was um so wichtiger ist, da sie den Film fast allein zu tragen haben. Mit nur wenig Straßen- oder Parkszenen hat der Film eine kammerspielartige Konzentration und Dichte, und er hat William Lubtschanskys wunderbare Bilder, dunkel, klar und seinem unnachahmlichen Sinn für Farben und Licht. So wie er einst den Maler und die Querulantin in leuchtende, flirrende südliche Sonne tauchte, so herrschen hier gedeckte Töne, tiefe Räume, suggestive Stimmungen. Suggestiv ist sowieso das passende Wort für Rivettes Jüngsten, eine neue verführerische Geschichte aus dem Pariser Paralleluniversum, explizit und delikat, sinnlich und mit zartem Humor, voller verschmitzter Andeutungen und Täuschungen, wie eben nur dieser Herr sie zustandebringt. Ich hoffe doch sehr, daß es nicht die letzte dieser Art war. (7.2.)