Un long dimanche de fiançailles (Mathilde – Eine große Liebe) von Jean-Pierre Jeunet. Frankreich, 2004. Audrey Tautou, Gaspard Ulliel, Dominique Pinon, Jean-Pierre Becker, André Dussolier, Dominique Bettenfeld, Jodie Foster, Tchéky Karyo
Mathilde und Manech aus der Bretagne sind seit Kinderzeiten ein Paar, und es ist noch immer die große Liebe. Sie verloben sich, und dann muß Manech in den Krieg, auf die Schlachtfelder an der Somme. Dort verstümmeln er und vier andere sich selbst, kommen vors Kriegsgericht und werden zum Tode verurteilt. Manech kehrt nicht nach Hause zurück, doch Mathilde glaubt fest daran, daß er lebt. Mit Hilfe eines Detektivs und ihrer Beharrlichkeit verfolgt sie nach und nach die ganze Geschichte dessen, was sich 1917 im Schützengraben und danach ereignete, zurück, macht Zeugen ausfindig und läßt so lange nicht nach, bis sie schlußendlich ihrem an Amnesie erkrankten Manech gegenübersitzt und ihn ansieht.
Wenn ein anderer Regisseur, schlimmstenfalls einer aus Hollywood, diese Geschichte erzählt hätte, wäre ziemlich sicher kaum zu ertragener Überkitsch dabei herausgekommen. Wenn der Regisseur aber Jean-Pierre Jeunet heißt, weiß man, sofern man irgendeinen anderen Film von ihm kennt, daß man nicht gerade mit leicht verdaulicher Unterhaltungsware rechnen darf, dafür aber mit ganz großem Kino, und genau das ist es auch geworden. Natürlich wird die Geschichte nicht sauber, geordnet, chronologisch und den gängigen Konventionen gehorchend erzählt – es gibt zahlreiche Verschachtelungen, Rückblenden in ganz unterschiedliche Zeitebenen, Abschweifungen, Ausschmückungen, Kommentierungen, und dennoch ist der rote Faden klar zu erkennen und sind die beiden hauptsächlichen Schauplätze in ihrer drastischen Unvereinbarkeit jederzeit identifizierbar. Auf der einen Seite die paradiesische Weltabgeschiedenheit der Bretagne (Fernweh, du hast einen Namen!), die in keiner Weise von irdischen Anfechtungen berührt zu sein scheint, ein rauhes, felsiges Idyll des einfachen Lebens in weichem, zärtlichen Sepiabraun. Auf der anderen Seite der Horror des Krieges, das unfaßbar grausame Sterben zwischen Schlamm, Giftgas und Granaten, das ebenso unfaßbar sinnlose und vorsätzliche Vergeuden von Menschenleben, für das Jeunet reichlich drastische Bilder bietet. Aber gerade dies, der extreme Kontrast zwischen Krieg und Frieden, zwischen Alptraum und Wunschtraum, zwischen verzweifeltem Fluchtgedanken und der großen Sehnsucht, macht den emotionalen Gehalt des Films aus, und es ist schon eine große Kunst, diese Balance auszuhalten ohne in maßlosen Kitsch abzurutschen. Dabei inszeniert Jeunet unentwegt Gefühle, sein Film ist ein einziger Frontalangriff auf unsere Emotionen, eine überwältigende Flut von Impressionen, Schicksal, Leid und Hoffnung, Liebe und Tod, wie sie elementarer kaum noch sein könnte. Es geht schließlich um die große, einzige, totale Liebe, die alle Hindernisse, alle Furcht, alle Zweifel ignoriert oder überwindet, um die daraus erwachsende Kraft und Zähigkeit, die Mathilde vorantreibt, wenn niemand sonst mehr Hoffnung hat. Jeunet zieht dieses Konzept bedingungslos durch, unterläuft es aber immer wieder sehr geschickt durch charmanten Witz, viel Selbstironie und seine allwissende, auktoriale Erzählerin, die mit sanfter Stimme, beschwingtem Tonfall, unerbittlicher Beiläufigkeit und Gründlichkeit die Chronik begleitet. Mathildes Detektivarbeit zwischen Paris und Korsika stellt unsere Konzentration vor einige Prüfungen, zumal man irgendwann mit all den Namen und Gesichtern vielleicht ein wenig ins Schwimmen kommen kann, doch ist dies auch einerseits eine sehr spannende und faszinierende Geschichte und andererseits eine äußerst bewegende Schilderung von Mensch und Krieg und davon, wie brutal und endgültig der Krieg in das Leben aller Beteiligten eingegriffen hat. Überall stoßen Mathilde und ihr zäher Detektiv auf Entwurzelte, Traumatisierte, auf Männer, die irgendwie durchgekommen sind, die andere Identitäten angenommen haben, die dem Tod auf wunderbare Weise entronnen sind, die Dinge gesehen haben, die sie ihr Leben lang verfolgen werden, und manche finden den Weg zurück in eine normale Existenz., andere verkriechen sich in den einsamsten Winkel. Parallel dazu gibt es die Hinterbliebenen, die sich an den kleinsten Hoffnungsstrohhalm klammern oder auch entschlossen Rache nehmen an den menschenverachtenden Offizieren und Politikern, die Todesurteile nach Belieben aussprechen, Gnadengesuche einfach zerreißen und denen ein Menschenleben rein gar nichts gilt. (Sogar den ehrenwerten Maréchal Pétain hätt’s beinahe erwischt – wenn das den Lauf der Welt nicht verändert hätte!) Puzzleartig entsteht ein gesellschaftliches Panorama, das bei Jeunet bestimmt nicht den Anspruch auf historische Untermauerung erhebt, das aber dennoch sehr eindrucksvoll gestaltet wird. Es gibt viele unvergeßliche Momente, Lachen und Entsetzen mischen sich bruchlos, und obgleich die wunderbare Audrey Tautou ihre einzigartige Präsenz wieder voll zur Geltung bringt und uns in all ihren Szenen gefangen nimmt und bezaubert, liegt über allem der dunkle Schatten des furchtbaren Krieges, für mich die eigentliche Hauptfigur in diesem Film. Unvergeßlich zum Beispiel ist jene Sequenz, in der Mathilde und ihre Helfer die einstigen Schlachtfelder an der Somme besichtigen: Wo sich zwei Jahre zuvor noch wahnsinniges Sterben und Töten abspielte, breiten sich nun ahnungslose, nichtssagende Äcker und Felder, die Gräben wurden mühsam zugeschüttet, die Toten auf endlosen Gräberfeldern beigelegt, und erst wenn man buchstäblich im Boden gräbt, findet man Zeugnisse und Reste dessen, was nun möglichst rasch überwuchert werden soll.
Jeunets Film ist nichts für die, die es geradeaus, übersichtlich und schön geordnet brauchen. Er wirbelt, taumelt, rast durch Zeit und Raum, springt munter von hier nach dort, berauscht und verstört, berührt und entsetzt, aber er ist in sich so stimmig, konsequent und überzeugend, daß es zumindest mir nie zuviel wurde oder nach bloßem Selbstzweck aussah. Ein fantastischer Film, und je nachdem wie ich gerade gestimmt bin, gefällt er mir vielleicht noch besser als die Amélie. (23.2.)