Le temps qui reste (Die Zeit die bleibt) von François Ozon. Frankreich, 2005. Melvil Poupaud, Jeanne Moreau, Christian Sengewald, Valeria Bruni-Tedeschi, Louise-Anne Hippaud, Marie Rivière, Daniel Duval
François Ozon ist sicherlich aktuell einer der markantesten und bemerkenswerten neueren französischen Regisseure, dessen Filme sich abgesehen von ihren jeweiligen Inhalten immer durch ihre besondere Dichte, Intimität und Konzentriertheit auszeichnen, und ähnlich wie bei viele Werke André Téchinés sind auch seine äußerst privat und persönlich und doch sperrig und fremd zugleich.
Romain ist ein hipper, angesagter Modefotograf, schwul und etwas arrogant, dessen Leben einstürzt, als ihm nach einem Zusammenbruch eröffnet wird, er habe nur noch kurze Zeit zu leben. Kein Aids, wie er selbst angesichts seines Lebenswandels befürchtet, sondern ein Tumor, der auch einer sofortigen Behandlung nur noch eine minimale Chance ließe. Ozon zeigt nun in den folgenden sehr kurzen (aber keinesfalls zu kurzen) achtzig Minuten, wie sich Romain entscheidet, was er tut und was er nicht tut, und als Zuschauer bleibe ich natürlich von diesem Thema nicht unberührt und vergleiche automatisch: Was würde ich wahrscheinlich tun, wenn ich wüßte, daß mir vielleicht noch ein oder zwei Monate bleiben, wie würde ich diese Zeit gestalten. Ich habe festgestellt, daß Romain sehr viele Dinge tut, die ich nicht verstehe, und vielleicht tut dieser Film auch deshalb ein bißchen weh, weil es um Existentielles geht, um sie sogenannten letzten Dinge, zu denen vermutlich jeder eine private Meinung hat. Romain trifft zunächst ein paar auch für mich verständliche Entscheidungen: Gegen die Chemotherapie, gegen den aktuellen Lover, mit dem ihn nur noch eine rein sexuelle, oberflächliche Beziehung verbindet, gegen eine Fortführung seines rastlosen Jobs, denn die wenige Zeit die bleibt ist einfach zu schade dafür. Er vertraut sich einzig seiner auf dem Land lebenden Großmutter an (Jeanne Moreau, der die viele Plastikchirurgie sichtlich nicht gut tut!), der er sich seelisch verwandt fühlt, weil auch sie wie er sagt bald sterben wird, und zu der er als einzigem Menschen eine wirklich zärtliche, tiefe Beziehung hat. Um so abweisender, um nicht zu sagen brutaler verhält er sich seiner übrigen Familie gegenüber. Die Mutter behandelt er verächtlich, dem Vater versucht er zwar nahezukommen, doch gelingt es ihm nicht wirklich, und die Schwester, die ihm einst sehr nahestand, wird von ihm beleidigt und tief verletzt. In diesen Momenten wirkt Romain äußerst abstoßend, selbstgerecht und herablassend, und auch wenn er später noch einmal versucht, Kontakt zur Schwester aufzunehmen, nähert er sich doch nicht richtig an, und dies ist etwas, was mir persönlich sehr fremd ist, denn ich hätte wahrscheinlich den reflexartigen Wunsch, mein Leben sozusagen „rund“ zu machen und selbst wenn das nur eine Illusion ist. Ozon hat naturgemäß kein Interesse an endgültig beantworteten Fragen oder gar einem abgerundeten Bild, und es macht eine große Qualität seines Films aus, daß er uns die vielen offenen Fragen, die losen Fäden, die ungeklärten Beziehungen zumutet und uns dazu bringt, ständig den eigenen Standpunkt einzubringen, zu reflektieren, ihn mit Romains Handeln zu vergleichen. Der zieht sich, statt ein letztes Mal auf sie zuzugehen, eigentlich von allen Menschen zurück, vertraut sich niemandem außer der Großmutter an, verbringt viel Zeit allein, doch hat man nicht das Gefühl, daß es ihm damit gut geht. Immer wieder bricht er in Tränen aus, dringt die Verzweiflung, die Angst durch seine glatte, kühle Oberfläche, hinter der er sich am liebsten verbergen würde. Er geht auf die Bitte eines bislang kinderlosen Paares ein, mit der Frau ein Kind zu zeugen, möchte noch einmal mit seinem Ex-Lover schlafen, wird aber abgewiesen und stirbt schließlich ganz allein eines Nachmittags oder Abends am Strand in der Sonne liegend. Dies ist natürlich wieder eine sehr schöne Szene, aber dieses viele Alleinsein, oder genauer der Gedanke daran macht mir persönlich etwas Angst, und ich habe wie gesagt gemerkt, daß der Film ziemlich existentielle Fragen und Gefühle berührt, und wie er das macht, ist natürlich außerordentlich. Ozon konfrontiert uns radikal offen und direkt mit Romains Geschichte und mit seinen Konsequenzen, er überläßt uns die Auseinandersetzung damit, vielleicht die Suche nach Erklärungen, nach einem sichernden Muster, er zeigt einerseits viel Mitgefühl und die Bereitschaft zu großer Nähe, beschönigt andererseits aber nicht Romains egozentrischen, für andere oft verletzenden Charakter, der es auch uns gelegentlich schwer macht, zu ihm eine Beziehung aufzubauen. Künstlerisch bleibt Ozon seinen bisher gezeigten Qualitäten treu: Der Film ist brillant inszeniert, sehr ruhig und souverän, sehr gefühlvoll und intensiv, vor allem von Melvil Poupaud in der schwierigen Hauptrolle glänzend interpretiert, und Ozon zeichnet sich einmal mehr durch eine fantastische Unaufdringlichkeit und Diskretion aus, die jegliche Platitüden vermeidet, uns aber auch nicht schont oder irgendetwas verharmlost. Ein herausragender, bewegender und komplexer Film eines der größten Stilisten im aktuellen französischen Kino, der wie nur wenig andere seiner Landsleute Intellekt und Emotion vereinbaren können ohne einen der beiden Faktoren zu vernachlässigen. (30.5.)