Am Ende kommen Touristen von Robert Thalheim. BRD, 2007. Alexander Fehling, Barbara Wysocka, Ryszard Ronczewski, Piotr Rogucki, Rainer Sellin, Lena Stolze

   Eigentlich wollte Sven seinen Zivildienst in Amsterdam absolvieren, doch war die Stelle dann doch nicht zu haben und so verschlägt es ihn in die Gegenrichtung nach Oświęcim in Polen, und das heißt zu deutsch Auschwitz. Er arbeitet dort in der Begegnungsstätte, betreut Gruppen und wird vor allem den über achtzigjährigen Stanisław, einen Überlebenden von Auschwitz, der nun noch Koffer für das Museum restauriert und als Zeitzeuge den Touristengruppen zur Verfügung steht. Sven lernt außerdem Ania kennen, die als deutschsprachige Führung tätig ist und ihren weitgehend arbeitslosen Bruder mit durchzieht. Die beiden verlieben sich, doch als Ania die Chance erhält, eine Ausbildung in Brüssel zu absolvieren, ist klar, dass die Beziehung keine Zukunft hat. Auch sonst läuft Svens gut gemeintes Engagement häufiger ins Leere und er eckt allerorten an, so dass er letztlich beschließt, seinen Dienst vor der Zeit zu quittieren, weil ihm die Verhältnisse nach eigener Erkenntnis zu kompliziert sind.

   Ein fabelhafter Film, dazu noch aus teutschen Landen, dem es ganz untypisch für unsereinen gelingt, ein extrem schwieriges und befrachtetes Thema so aufzunehmen, dass die ganze Angelegenheit nicht unter dem schieren Gewicht der furchtbaren Historie zermalmt wird. Der junge Sven geht von Anfang an recht unbedarft an seinen Job heran, und erst im Kontakt zu Stanisław und Ania erlernt er eine Art von Betroffenheit, die sich stark von der unterscheidet, die der deutsche Durchschnittstourist an diesem Ort an den Tag legt. Schlaglichtartig versammelt Thalheim hier einige Archetypen – die Pädagogen mit den gedämpften Stimmen, die verlogenen Geschäftemacher, Repräsentanten des neuen Kapitalismus ohne Grenzen, die taktlosen Dummköpfe oder die Ahnungslosen, die nur gern mal die eintätowierte Nummer des Ex-Häftlings sehen wollen. Da geht es dann zum Teil schon mal recht bissig ins Gericht, doch findet Thalheim stets eine ausgewogenen Balance und fügt auch ganz andere Töne ein, menschliche, zärtliche, manchmal gar komische. Der alte Stanisław verkörpert hier das alte, das vernichtete, das untergegangene Polen das, sofern nicht bereits von den Deutschen ausgerottet, nun auch noch von den eigenen Landsleuten links liegen gelassen wird – die einen können und wollen die ewig gleichen Geschichten aus dem Lager nicht mehr hören und wie Ania am liebsten ein ganz normales Leben leben, und die anderen empfinden ihn schlicht als lästig und als überholt, so wie die Kollegen vom Museum, die ihm schließlich nicht mal mehr die jüdischen Koffer zum Restaurieren geben, weil seine Arbeit nicht ihrem Anspruch genügt. Hier nun schaltet sich Sven endlich ein, indem er heimlich einige Koffer für Stanisław organisiert und ihm gegenüber so tut, als würden seien Dienste nun doch noch benötigt, nur geht seine Aktion nach hinten los, stürzt seinen Chef in Verlegenheit und hilft dem Alten letztlich nicht. Auch schafft er es nicht, in Anias Leben einen Platz einzunehmen, der wichtig genug wäre, um sie von ihrem Entschluß nach Brüssel zu gehen abzubringen. Sie versucht ihm zu erklären, dass dies womöglich ihre einzige Chance ist, jemals aus diesem unendlich öden, hoffnungslosen kleinen Industriekaff fortzukommen, und dass dies für sie in jedem Fall schwerer wiegen muß als eine höchstwahrscheinlich sowieso nur flüchtige Romanze. Und es sieht auch so aus, als sei am Schluß einiges bei ihm hängen geblieben - eine Art coming of age also eines jungen Berliners, der selbst noch gar nicht so genau weiß, wohin mit seinem Leben, was wiederum Ania nicht verstehen kann, weil es diese Art von Sorg- und Verantwortungslosigkeit in ihrem Land unter Ihresgleichen nicht geben kann, wenn man überhaupt eine Chance haben will.

   Abgesehen von diesen außerordentlich vielschichtigen und doch ganz locker und unkompliziert verknüpften Themen schwingen natürlich jede Menge Untertöne mit, die dieser Ort einfach hervorruft, nach denen Sven manchmal ganz direkt fragt, die wir aber auch so beim Zuschauen immer im Hinterkopf haben: Wie ist das, sechzig Jahre später in Auschwitz zu leben, kann das jemals ein ganz normales Leben in einer ganz normalen polnischen Stadt werden? Wie ist das Bild von den Deutschen? Wie intensiv ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Wie bedeutsam sind die Einflüsse des oben genannten neuen Kapitalismus, der versucht, sogar noch die Erinnerung kommerziell nutzbar zu machen? Wie leben die Überlebenden heute, wie sind sie in die Gesellschaft integriert? Undsoweiter. Manche dieser Fragen werden nebenbei in ein paar sehr prägnanten Momenten beantwortet, andere können natürlich in einem so kurzen Film nicht beantwortet werden, und mit wieder anderen hatte sogar Claude Lanzmann in seinem „Shoah“ Probleme, weil man nämlich erst mal Leute finden muß, die wirklich ehrlich Auskunft zu geben bereit sind.

 

   Thalheim erzählt dicht und zügig, und ich habe mir schon während des Zusehens gewünscht, der Film möge doch noch eine weitere Stunde andauern, schon wegen der Bilder aus dem Auschwitz von heute, ganz außerordentlich eindrucksvolle, starke Bilder, die letztlich Ania recht zu geben scheinen und sagen, dass man an einem solchen Ort, gerade so wie er hier und heute aussieht, nicht wirklich leben kann und Flucht die einzige Möglichkeit ist. Es müssen hier keine großen Phrasen gedroschen und keine Pamphlete verlesen und keine flammenden Appelle losgelassen werden, alles ist drin in dieser kleinen, konzentrierten Geschichte, im Miteinander der beteiligten Menschen, in dem, was sie sagen, was sie sehen, woher sie kommen und wofür sie stehen. Dies ist ein meisterhafter Film und um Klassen besser als der Vorgänger „Netto“, natürlich auch thematisch von ganz anderem Kaliber. (27.8.)