Babel (#) von Alejandro González Iñárritu. Mexiko/USA, 2006. Brad Pitt, Cate Blanchett, Koji Yakusho, Rinko Kikushi, Gael García Bernal, Adriana Barazza, Saïd Tarchani, Boubker Aid El Caid, Elle Fanning, Nathan Gamble
Ein gutes Dutzend Menschen auf drei Kontinenten, vier verschiedene Sprachen, vier verschiedene Kulturen und eine unbedeutende Winzigkeit, die all diese Geschichten letztlich in Gang bringt: Alles beginnt im Grunde damit, dass ein Hobbyjäger aus Tokio seinem marokkanischen Jagdführer zum Dank sein Gewehr überlässt. Der Marokkaner wiederum verkauft das Gewehr seinem Nachbarn. Der schickt seine beiden Söhne los, um die Ziegenherde gegen Schakale zu verteidigen. Die Jungs machen im Gebirge aus Langeweile Schießübungen und wetten, wer am besten trifft. Beide schießen auf einen tief unten vorüberfahrenden Touristenbus, und einer der beiden trifft den Bus und eine darin sitzende Frau. Diese Frau kommt aus San Diego/Kalifornien und ist mit ihrem Mann auf einer Reise unterwegs. Sie wird schwer getroffen und droht zu verbluten. Der Bus hält in einem kleinen Dorf, doch Hilfe kommt nicht, weil sich die marokkanischen und die amerikanischen Behörden nicht auf eine Zusammenarbeit verständigen können – Terrorismusverdacht und die große Politik sind im Weg. Der Ehemann ruft zu Hause an. Dort passt eine mexikanische Frau auf die beiden Kinder auf. Sie möchte unbedingt zur Hochzeit ihres Sohnes fahren, doch der Amerikaner macht ihr klar, dass das nicht gehen wird, weil ihre eigene Rückkehr in den Sternen steht. Die Mexikanerin fährt aber doch über die Grenze, nimmt die beiden Kinder einfach mit und läßt sich von ihrem wilden Neffen chauffieren. Auf dem Weg zurück nach San Diego bleiben sie an der Grenze hängen, es kommt zu einem Wortgefecht zwischen einem aggressiven US-Grenzer und dem angetrunkenen und gleichfalls aggressiven Neffen. Der dreht durch und brettert einfach durch die Absperrung und mitten in die Wüste. Dort lässt er seine Tante mit den beiden Kindern zurück. Sie irrt orientierungs- und hilflos herum, lässt dann ihrerseits die Kinder unter einem Strauch zurück, um Hilfe zu holen und hat Glück, als sie auf eine amerikanische Polizeistreife trifft. Zurück zum Ausgangspunkt: In Tokio leidet der Hobbyjäger unter dem furchtbaren Selbstmord seiner Frau. Die taubstumme Tochter hatte die Mutter gefunden und ist nun traumatisiert und findet keinen Kontakt zum Vater. Stattdessen zieht sie mit ihrer Clique durch die Stadt, provoziert Jungs, will endlich Sex haben und wirft zwischendurch auch mal kleine rosa Pillen ein. Auch in Japan erfährt man vom Schicksal der amerikanischen Touristin in Marokko. Die Polizei will den Vater zu dessen Gewehr befragen, weil man sicher gehen möchte, dass die Waffe nicht vom Schwarzmarkt kommt. Ein junger Polizist kommt zur Tochter in die Wohnung, die versucht ihn zu verführen, doch er weist sie freundlich ab.
Zwei Geschichten enden mit Aussicht auf Hoffnung, zwei nicht: In Marokko geht die Polizei mit Waffengewalt und drastischer Härte gegen die Verdächtigen vor. Bei einem Schusswechsel werden der verzweifelt fliehende Vater und die beiden Söhne aufgehalten, einer der Söhne wird schwer, vielleicht tödlich getroffen. Die Mexikanerin, die sich seit sechzehn Jahren illegal in den Staaten aufgehalten hatte, wird nach Mexiko ausgewiesen, obwohl man die beiden ihr anvertrauten Kinder gerade noch finden und retten konnte. Die Amerikanerin überlebt ihre Verletzung und kann mit ihrem Mann nach Hause zurückkehren, und vielleicht finden die beiden, die ein drittes Kind durch nächtlichen Atemstillstand verloren hatten, einen Weg aus ihrer Ehekrise. Das japanische Mädchen und ihr Vater finden vielleicht auch näher zusammen. Jedenfalls kann er seine nackt und verzweifelt auf dem Balkon stehende Tochter in die Arme nehmen.
Natürlich häuft Iñárritu in seinem dritten Film nach „Amores perros“ und „21 Gramm“ sehr viel Schicksal aufeinander, natürlich scheint seine Weltsicht von Pessimismus und Fatalismus geprägt zu sein, doch hat man als Zuschauer jederzeit die Möglichkeit, sich mit dieser Haltung auseinander zu setzen und gegebenenfalls die eigene zu prüfen. Für mich steht allerdings fest, dass Iñárritu einer der bedeutendsten „modernen“ Regisseure ist, zumindest was den amerikanischen Kontinent betrifft, und mit „Babel“ hat er einen wirklich großen, modernen Film gemacht, der Themen wie Globalität, Kommunikations- und Kulturclash verarbeitet und sie mit seiner recht archaischen Auffassung von Schicksal und Bestimmung konfrontiert. Es sind bei ihm die Schnittstellen (auch so ein herrlich modernes Wort, gelt?), die diesen Clash veranschaulichen: Der amerikanische Ehemann kämpft gegen die Widrigkeiten der Verständigung und noch mehr der Politik, die eine unbürokratische Hilfe verweigert, weil einerseits die Marokkaner ihren Luftraum nicht freigeben wollen und andererseits die Amerikaner allzu schnell mit der üblichen Verschwörungsparanoia bei der Hand sind und sogleich einen terroristischen Anschlag vermuten. Misstrauen ist letztlich auch Ursache der Eskalation an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, wo der Beamte an dubiose Gestalten gewöhnt ist und sich keine Mühe gibt, die Lage zu entspannen, er scheint im Gegenteil nach einem Grund zu suchen, diesen aufmüpfigen, schmuddeligen Chicano aus dem Wagen zu holen und ihn seine Autorität spüren zu lassen. Nicht nur spricht man nicht die gleiche Sprache, man ist von gegenseitigem erlerntem Misstrauen und gegenseitigen Vorurteilen geprägt, eine Verständigung scheint weder möglich noch erwünscht. Eine zentrales Paradoxon unserer ach so globalen neuen Welt: Geographische Grenzen sind so leicht überwindbar wie noch nie, doch die kulturellen, politischen und mentalen Grenzen scheinen immer unüberwindlicher zu werden.
Jenseits der Frage, ob Iñárritus Szenarium vielleicht doch zu düster oder zu schematisch und konstruiert ausfällt, muß man auf jeden Fall feststellen, daß ihm ein unglaublich intensiver, spannender, nervenaufreibender Film mit unvergesslich eindringlichen Bildern gelungen ist. Ob es nun die Stars Blanchett, Pitt und Bernal sind oder uns nicht so bekannte Gesichter, sie alle kommen sehr stark und einprägsam rüber, und vor allem gelingt es Iñárritu trotz zum Teil sehr abrupter Sprünge, die jeweilige Atmosphäre der verschiedenen Handlungsorte perfekt und präzise einzufangen und für uns spürbar werden zu lassen. Man sieht den staubig-ausgebrannten, ursprünglichen Atlas ebenso vor sich wie die extrem künstliche und entfremdete Neongroßstadtwelt Tokios oder die öden Grenzdörfer zwischen den Kulturen in der kalifornischen Strauch- und Geröllwüste, man ist jedes Mal sofort drin im Setting, hat Geräusche, Farben und Gerüche parat, und letztlich erinnert uns diese Erzählweise auch an die faszinierende und manchmal eben auch beunruhigende Vielfalt von Lebensräumen und –formen und –umständen. Dies ist vor allem sinnliches Kino, und ich kenne zur Zeit keinen Regisseur, der Iñárritu auf diesem Gebiet das Wasser reichen könnte. (4.1.)