La tourneuse de pages (Das Mädchen, das die Seiten umblättert) von Denis Dercourt. Frankreich, 2007. Déborah François, Catherine Frot, Pascal Greggory, Clotilde Mollet, Xavier de Guillebon, Julie Richalet, Jacques Bonnaffe, Christine Citti
Eine Rachegeschichte: Mélanies großer Traum von der Pianistinnenkarriere wird in einem einzigen Moment zunichte gemacht, weil ein Fan ein Autogramm von der Juryvorsitzenden, der prominenten Pianistin Ariane, haben möchte und das Mädchen mitten im Vorspiel völlig aus dem Takt gerät. Das Klavier wird verschlossen, der Traum ist zuende. Jahre später absolviert Mélanie ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei und bietet dem Chef eines Tages an, im Sommer dessen Sohn zu betreuen. Sie lernt seine Frau kennen – just jene Ariane von damals – und weil der Maître ihr vertraut, erzählt er ihr, dass seine Frau vor zwei Jahren einen schweren Autounfall hatte, seither traumatisiert ist und noch immer unter starken Angstzuständen bzw. Lampenfieber vor einem Auftritt leidet. Mélanie gewinnt Arianes Vertrauen als Seitenumblätterin bei Konzerten und kann nun schrittweise daran gehen, gründlichst Rache an der Frau zu nehmen, die einst ihre Zukunft zerstörte.
Immer wieder werden uns zwischendurch Visionen davon angeboten, wie sich diese Rache abspielen könnte, und dies sind vornehmlich handfeste Hollywoodversionen: Die Eltern sind Metzger, also wird zu Beginn mit Hackebeilchen und scharfen Messern hantiert und Mélanie hat von dieser Fertigkeit offenbar einiges abbekommen, wie sie später in der Küche ihrer Arbeitgeberfamilie demonstriert. Also wird uns auf diese Weise ein konventionell blutiges Finale suggeriert. Oder: Der Sohn des wohlhabenden Paares übt gern im Schwimmbad tauchen, und wir erleben einmal, wie Mélanie seinen Kopf scheinbar spielerisch länger unter Wasser drückt, um ihm dabei zu helfen, den eigenen Rekord zu brechen. Wäre auch eine Möglichkeit. Und ein einziges Mal wird’s tatsächlich ein bisschen drastischer, als das Mädchen dem zudringlichen Cellisten aus Arianes Trio den Stachel seines Instruments in den Fuß rammt und ihm damit deutlich macht, dass sie im wahrsten Sinne des Worte unberührbar ist. Aber schließlich kommt alles doch ganz anders und Mélanies Vergeltung erweist sich als viel subtiler und dadurch viel fürchterlicher und vernichtender.
Subtil wäre auch ein Stichwort, das auf diesen meisterhaft inszenierten, gespielten und konstruierten Film zutrifft, der trotz seiner überaus knappen fünfundachtzig Minuten von eindrucksvoller, minutiöser Intensität und bestechender Überzeugungskraft ist. Speziell über den letztgenannten Punkt gab es hernach einen ausführlichen Disput mit meiner weiblichen Begleitung, an dessen Ende die Erkenntnis stand, dass der Männerblick die Figur der Mélanie womöglich anders, weil von erotischen Einflüssen geprägt, beurteilt als der weibliche, kritische, distanzierte Blick. Die Frage, ob es glaubwürdig ist, wie Mélanie Zutritt in das noble Anwesen der Familie erhält, habe ich mir jedenfalls zu keinem Zeitpunkt gestellt, weil dieses Mädchen dermaßen zurückhaltend, ruhig und vertrauenerweckend wirkt, dass ich sie mir sofort als perfekte Haushaltshilfe vorstellen konnte und auch Arianes anfänglich distanzierte, später aber zunehmend positive Reaktion völlig logisch fand. Egal. Denis Dercourts Drehbuch ist geradezu mustergültig aufgebaut, entwickelt seine Linie mit zwingender Folgerichtigkeit, schildert jeden Schritt bis hin zum bitteren Ende eindringlich und dennoch bestechend ökonomisch, verzichtet dabei auf jegliche dramaturgische oder kommerzielle Mätzchen, sondern bedient sich einer ruhigen, strengen, fast formelhaften Bildsprache, die das Drama in klassisch klare und schöne Bilder fasst und unsere Konzentration zu keiner Zeit ablenkt. Mit viel Gefühl wird der spezielle Klassenkodex des reichen Ehepaares in seiner Umgebung umrissen, jene Art von Kultiviertheit, die letztlich vielfach aus der kultivierten Oberfläche besteht (man spielt schließlich Trios von Schostakovitsch und Schubert und lässt den Filius Bach üben) und für ehrlich ausgelebte Gefühle wenig Raum bietet. Ein Mädchen wie Mélanie, das so gut wie nichts von seiner Persönlichkeit oder seinen Gedanken preisgibt, ist in dieser Welt die ideale Projektionsfläche für alle denkbaren Wunschträume und Begehrlichkeiten (auch die des männlichen Zuschauerns übrigens...), und gerade diese Qualität nutzt sie gnadenlos aus, vor allem in ihrem Verhältnis zu Ariane. In den Szenen mit den beiden laufen Déborah François und Catherine Frot zu atemberaubender Form auf und liefern sich ein hintergründiges, vielschichtiges Psychoduell, das oft nur aus Blicken und Nuancen besteht und unendlich viel spannender und reizvoller ist als etwa eine grobe Gruselkiste à la Stephen King. Die herausragende Klasse der Darsteller, vor allem der beiden Frauen im Zentrum der Handlung, ist neben der sorgfältigen, makellos arrangierten Inszenierung der große Pluspunkt dieses Films, der auf großartige und zugleich perfide Weise unsere Emotionen und Sehgewohnheiten manipuliert. Mélanie wirkt auf der einen Seite fast abschreckend kalt und fremd, dennoch reicht manchmal ein schnelles Lächeln, ein Blick, um sie uns wieder nahe zu bringen, und schließlich vergessen wir den Moment ihrer Demütigung vor der Jury nicht und auch nicht Arianes gleichgültiges, gefühlloses Verhalten dem kleinen Mädchen gegenüber, um so weniger, als dieses Mädchen aus ganz einfachen Verhältnissen stammt und gerade ihre Mutter all ihre eigenen Träume und ihren unerfüllten Ehrgeiz in ihre Tochter projiziert zu haben scheint. Später dann, als sich die Machtverhältnisse auf kuriose Weise umgekehrt haben, ist es eher die nun verletzliche, ängstliche und innerlich aus der Balance geratene Pianistin, die unser Mitgefühl hat, während das blonde, auf kühle Art schöne Mädchen wie ein unbarmherziger Racheengel ausschaut und wir mit fasziniertem Schrecken jedes ihrer genau kalkulierten Manöver verfolgen.
Ich habe mich fast von der ersten bis zu allerletzten Minute an tief in diese Geschichte hineingesogen gefühlt, abwechselnd fröstelnd, erwartungsvoll und voller Vorahnung und vor allem der spannenden Ungewissheit, in welche Richtung sich die Handlung noch entwickeln wird, zumal sie, wie gesagt, außerordentlich suggestiv ist und in viele Richtung laufen könnte. Selten habe ich einen so glänzend gestalteten Psychothriller gesehen, der mit solch reduzierten, gekonnt eingesetzten Mitteln eine solch intensive Wirkung erzielt. Châpeau! (22.5.)