Das wahre Leben von Alain Gsponer. BRD/Schweiz, 2006. Ulrich Noethen, Katja Riemann, Josef Mattes, Hannah Herzsprung, Alexander Held, Juliane Köhler, Volker Bruch, Martin Feifel
Nein, das wahre Leben ist das hier nicht, jedenfalls nicht, was mich betrifft. Da ist natürlich jeder anders veranlagt, und mein persönliches Zurückschrecken vor Extremen oder allzu wilden Gefühlsaufwallungen spielt bei meiner Betrachtung die entscheidende Rolle, woraus ich schon sehe, dass der Film mich keinesfalls kalt gelassen hat, denn das hat er ganz bestimmt nicht, er hat mich mit zunehmender Dauer nur ein wenig genervt. Aber vielleicht ist der Titel auch ironisch gemeint...?
Zwei Familien in gut situierter Nachbarschaft: Familie Spatz, Vater, Mutter und zwei Söhne, einer beim Bund, der andere wohl noch in der Schule. Vater ehrgeiziger, erfolgsorientierter Businessman (nein, kein Geschäftsmann!), Mama Inhaberin einer hippen modernen Kunstgalerie, und so hat man sich eingerichtet. Dann bricht eines Tages die Hölle los: Papa kommt unter die Räder des modernen Kapitalismus, sitzt nach zwölf Jahren permanenter Abwesenheit plötzlich zu Hause, kriegt keinen Kontakt zur Umwelt, von der er sich gründlich entfremdet hat und fällt wie gehabt in wüsten, ziellosen Aktionismus, damit er eine Aufgabe und einen Sinn hat. Mama, schon lang abgekühlt und desillusioniert, vögelt zum Zeitvertreib mit einem anderen Mann herum, ohne dabei oder anderswo etwas Tieferes empfinden zu können. Soldatensöhnchen hat sein coming out und damit genug zu tun, der jüngere bastelt Sprengsätze und bändelt mit der interessanten Nachbarstochter an, und damit wäre der Schwenk zur anderen Familie, den Krügers, geschafft: Da liegen die Defekte wenigstens gleich offen zutage – seit vor Jahren der Sohn bei einem Unfall ums Leben kam, ist alles aus dem Gleichgewicht geraten, lediglich Paps, ein erfolgreicher Anzug- und Krawattenträger, schafft es meistens, die Fassade zu erhalten, während Mama total abgedreht ist und nur von Drogen gebändigt werden kann und Töchterchen sich als auto-aggressiver Punk gebärdet und mit sich und der Umwelt total im Clinch liegt. Daß diese beiden mehr oder weniger kaputten Familien im Verbund eine im wahrsten Sinne des Wortes explosive Mischung ergeben, kann man sich leicht vorstellen, und so reiht sich eine Katastrophe an die andere, bis schlussendlich die Spatzens ganz unten angekommen sind und es die Krügertochter wenigstens schafft, den Geist ihres Bruders in den Umlauf zu befördern.
Der schöne und oft verwendete Satz „Hier wäre weniger mehr gewesen“ findet bei diesem Film hundertprozentige Anwendung und fasst mein persönliches Urteil treffend zusammen. Von einem halbwegs amüsanten und auch noch realitätsnahen Ausgangspunkt entfernt sich die Geschichte immer mehr, versteigt sich in groteske Übertreibungen und Motivklischees, die man so oder so ähnlich schon x-mal gesehen hat: Der gedemütigte Papa, der zuhause kein Fettnapf auslässt, die versteinerte Mama, die nur noch Zuflucht in coolem Sarkasmus findet, der pubertierende, rebellierende Sohn und der schwule Sohn, der in einer nicht gerade schwulenfreundlichen Umgebung zurechtkommen muß. Auf der anderen Seite wiederholt Hannah Herzsprung ihre Rolle als wildes, selbstzerstörerisches Mädchen, das seine Nöte und Emotionen nicht anders als in allseits hasserfülltem Verhalten abreagieren kann. Und so feine Schauspieler wie Alexander Held oder erst recht Juliane Köhler werden in farblosen Nebenrollen fast gänzlich verschleudert. Dabei sind ansonsten die Schauspieler natürlich das größte Kapital des Films, und solche großartigen Leute wie Noethen oder auch Riemann oder die Jugendlichen Herzsprung und Mattes machen das ganze fast schon wieder sehenswert, obwohl sich in mir mit zunehmender Dauer ein intensiver Widerstand gegen dieses „wahre Leben“ aufgestaut hat. Drastische Exzesse müssen nicht automatisch mit Glaubwürdigkeit verwechselt werden und die Mär vom Schlachtfeld des Lebens war noch nie meine Philosophie. Suizidversuche in Serie, niedergerissene Wände, massenhaft Detonationen, spröd-herausfordernde Erotik, Schrilles aus dem Kunstbetrieb und ein paar zugegeben auch sehr gut gelungene und getroffene Schlaglichter aus dem Kapitalistenparadies Neudeutschland können die allgemeine Oberflächlichkeit und Lieblosigkeit der Betrachtungen zu Männern, Frauen und ihren Familien nicht kompensieren. In einer Szene betrachten die beiden Nachbarskinder die Eltern Spatz beim Ehestreit und kommentieren ihn mit herablassender Verachtung. Dies findet im gesamten sonstigen Miteinander der Menschen hier überhaupt keinen Widerhall und bleibt somit als hohle und total unreflektierte Pose im leeren Raum stehen, denn die Frage nach Verantwortung wird hier sonst an keiner Stelle aufgeworfen. Die Kinder stehen alleingelassen, verstört und verunsichert da, die Erwachsenen ganz genauso, und alle scheinen irgendwie Opfer ihrer Zeit und Umwelt geworden zu sein. Für eine Satire ist das im Fazit sowohl zu vage als auch zu lieblos, und so kann mich der Film alles in allem nicht überzeugen. (20.3.)