Nuovomondo (Golden Door) von Emanuele Crialese. Italien/Frankreich, 2006. Vincenzo Amato, Charlotte Gainsbourg, Aurora Quatrocchi, Francesco Caisia, Filippo Pucillo, Frederica de Cola, Isabella Ragonese, Vincent Schiavelli
Die Neue Welt aus dem italienischen Originaltitel (der deutsche ist mal wieder Blödsinn) war das große, ferne, lockende Ziel um die vorletzte Jahrhundertwende für unzählige Emigranten aus dem zum Teil sehr verarmten Europa, und Emanuele Crialese hat für seinen Film den Weg der Familie Manusco von Sizilien bis nach Ellis Island beschrieben. Daheim: Karge Landschaften aus Steinen und Dornen, archaische bäuerliche Kultur, tief verwurzelte religiöse Riten und ein paar Bilder aus Amerika von Menschen mit riesenhaften Zwiebeln, Schafen oder anderen Feldfrüchten, die fieberhafte Wunschträume vom Schlaraffenland hervorrufen. Papa Salvatore schnappt sich seien beiden Söhne, seine beiden Töchter und die alte Mama, um seinen Zwillingsbruder drüben in den Staaten zu suchen, dort, wo man in Milch badet und von einer einzigen Möhre einen ganzen Monat leben kann. Crialese schildert kommentar- und schnörkellos die Reise aus dem Dorf zum Hafen, wo sich alle Auswanderer zu einem turbulenten Haufen sammeln, und wo Salvatore die rothaarige, schöne und geheimnisvolle Lucy trifft, dann aufs Schiff, wo der strapaziöse, lange Teil der Reise beginnt, wo Freundschaften und Konflikte entstehen, wo man dicht an dicht unter Deck in Schlafsälen haust, wo man Kulturen und Überzeugungen gegeneinander abgrenzt, und wo Lucy es schafft, Salvatore zur Heirat zu überreden, nicht aus Liebe, wie sie sogleich klarstellt, sondern einzig, um für die USA eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Am Ende ihrer Kräfte erreichen die Leute dann Ellis Island, wo abschließend die große Erniedrigung auf sie wartet, wo sie sich nämlich nicht nur aus Läuse durchsuchen lassen sondern sich auch einem Intelligenztest unterziehen müssen, denn die USA, so wird den Einwanderern großspurig verkündet, nehmen nur die Besten und Klügsten unter die Ihren auf (da muß dann aber irgendwo was schiefgelaufen sein...). Zudem gibt’s noch einen öffentlichen Heiratsmarkt, auf dem die Frauen sozusagen per Zuruf an den Mann gebracht werden. Salvatore und die Seinen haben es schwer, denn sein ältester Sohn ist ein wenig schwer von Begriff, der jüngste wird als taubstumm angenommen, weswegen ihn die Amis per se ausschließen, die beiden Töchter kriegen Männer, die sie eigentlich nicht wollen, und Mama stellt sich so stolz und bockbeinig an, dass sie ebenfalls abgewiesen wird. Plötzlich aber spricht der Jüngste dann doch ein paar Worte, Salvatore hält ein emotionsgeladenes Plädoyer für seine Familie, und am Ende ist sowieso alles egal: Die hoffnungsvollen Neuankömmlinge baden lächelnd in einem unendlichen Meer aus Milch, und Nina Simone predigt zu ihrem rollenden Piano und unwiderstehlich treibendem Jazzbeat zehn glorreiche Minuten lang vom ewigen „Sinnerman“.
Dieses geniale gigantische Gänsehautfinale (eines der besten, an die ich mich überhaupt erinnern kann) ist das würdige Highlight eines Films, der seine karge, schlichte Strenge immer wieder durch überraschende, fast surreale Momente untergräbt und uns damit an die Mächte des Irrationalen erinnert, die ein großer Motivator für viele dieser Menschen waren. Die Manuscos sind nur ein Beispiel für die vielfältigen Sehnsüchte, Illusionen und Legenden, die damals mit dem Namen Amerika verknüpft waren und die zusammengenommen mit der ganz konkreten und erdrückenden Not daheim den Ausschlag für die unglaublich strapaziöse Reise in eine letztlich völlig ungewisse Zukunft gegeben haben. Crialese zeigt die Naivität der sizilianischen Bauern im Hinblick auf das Gelobte Land, doch ist seine Haltung durchgehend ironisch und durchaus noch ein wenig schärfer, wie nicht nur das skurrile Ende zeigt sondern auch schon einige Szenen vorher. Amerika existiert hier niemals direkt im Bild sondern einzig als das abstrakte Produkt der Phantasie, als lachhafte Verzerrung auf den Postkarten oder in den grotesken Träumen Manuscos. Crialese würdigt das Land selbst keines Blickes, nicht ein New Yorker Wolkenkratzer rückt in Sicht, nicht mal die Freiheitsstatue, gar nichts. Alles was wir bekommen sind Mythen oder die Beamten der Einreisebehörde und die stellen nun wirklich keine besonders sympathischen Repräsentanten ihrer Nation dar. Dieser ganz und gar nicht romantisierenden Sicht auf Amerika stehen die bunt gewürfelten Immigranten gegenüber, die nach außen vielleicht nicht gerade glamourös wirken, die aber allein mit ihrer Phantasie, ihrer Hingabe und ihrer Entschlossenheit, ihren Traum umzusetzen, eine größere Bereicherung für Amerika wären als viele von denen, die nun ausgerechnet über Einreise oder Repatriierung entscheiden dürfen.
Auch in der Zeichnung der Personen baut Crialese Brüche und Stolperfallen ein. Mal erscheinen sie als würdevolle, tief in ihrer steinigen Erde und ihrer kulturellen Tradition verwurzelte Bauern mit unerhört starkem Gefühl und großem Herzen, mal als streitlustige Deppen, manchmal auch als naive Einfaltspinsel. Eine in vieler Hinsicht sehr italienische Art und Weise, auf die eigenen Leute zu blicken. Die mysteriöse Charlotte Gainsbourg ist ein absoluter Fremdkörper in dieser Welt, sie wirkt verglichen mit dem derben, einfachen Manusco geradezu mondän und elegant, manchmal auch etwas intrigant oder auch berechnend, dann wieder das Opfer fieser Männerbegierden. Was auch immer sie in Amerika sucht, wir wissen es nicht, auch nicht, woher sie kommt, was sie erlebt hat und wer sie überhaupt ist. Sie selbst ist wie eine Fata Morgana, eine Phantasie, und wer weiß, vielleicht gehört sie auch nur zu Manuscos Traum von Amerika und existiert gar nicht als reale Person im Film. Crialese erlaubt uns viel geistige Freiheit, sein Film hat einen großen Atem, gleichwohl schenkt er sich große Gesten, lässt manchmal zu Beginn die sizilianische Landschaft sprechen, später dann die Gesichter auf dem Schiff und noch später den dramatischen Kampf um die Einreise ins Paradies. Ein in vieler Hinsicht großartiges Werk mit einigen Überraschungen und einigen unvergeßlichen Momenten und zweifellos sieht er total anders aus als die amerikanische Version dieser Geschichte. Die will ich aber sowieso nicht sehen. (3.6.)