Cœurs (Herzen) von Alain Resnais. Frankreich/Italien, 2006. Sabine Azéma, Isabelle Carré, Laura Morante, André Dussolier, Pierre Arditi, Lambert Wilson

   Irgendwo im großen schönen Frankreich muß ein Jungbrunnen existieren, den die maßgeblichen Filmschaffenden regelmäßig aufsuchen, denn wie sonst ist die beträchtliche Zahl der Siebzig- bzw. sogar Achtzigjährigen zu erklären, die uns noch immer wie seit fast schon fünfzig Jahren mit ihren Werken erfreuen? Die einst „jungen Leute“ wie Chéreau, Téchiné oder Doillon kommen sichtlich in die Jahre, Chabrol ist in den späten Siebzigern, Godard auch, aber von dem hört man ja wohl nichts mehr, Rivette macht bald die Achtzig voll, Rohmer ist schon weit weit drüber, und unser Monsieur Resnais hier ebenso, der olle Bretone mit seinen mittlerweile knapp fünfundachtzig Lenzen und seinen fast sechzig Jahren Berufserfahrung. Ironischerweise sind es die jüngsten aus dem Zirkel der legendären Nouvelle Vague, nämlich die schmerzlich vermissten Herren Truffaut und Malle, die leider nicht mehr dabei sind, ansonsten ist diese Vitalität schon phänomenal, zumal wenn sie noch immer solch schöne Werke hervorbringt wie dieses hier.

   Resnais hat sich im Laufe seines Schaffens weitgehend in Kunstwelten bewegt und dies auch immer sehr deutlich zur Schau gestellt, zum Beispiel in seinen betont artifiziellen Melodramen „Melo“ oder „L’amour à mort“, an die mich dieser neue Film stark erinnert hat – eine kunstvolle, selbstreferentielle Stilübung, ein Studiofilm in stilisiert beleuchteten und eingefärbten Dekors mit Dauerschnee von draußen, ein hermetisches Kammerspiel fast ohne Hintergrund und Komparsen und nur auf die sechs Hauptfiguren zugeschnitten. Dies sind drei Männer und drei Frauen, in einer Reihe beruflich oder verwandtschaftlich oder sonst privat irgendwie miteinander verbunden, und wenn im Titel von Herzen die Rede ist, dann sind zunächst und vor allem einsame Herzen gemeint, denn damit haben wir es hier in sechs Varianten zu tun, am Ausgangspunkt auf jeden Fall, und zwei Stunden später irgendwie auch noch, obwohl sich einiges ereignet und verändert.

   Thierry und Gaëlle sind Geschwister und leben in einer gemeinsamen Wohnung. Er arbeitet im Immobiliengeschäft und versucht, Nicole und Dan eine Wohnung zu vermitteln, was jedoch nicht klappt, weil vor allem Dan mäkelt, denn obgleich er seit einiger Zeit arbeitslos ist, besteht er auf einem eigenen Arbeitszimmer. Das Paar entfremdet sich mehr und mehr, denn er verbringt seine Tage an der Hotelbar, ersäuft in Alkohol und Selbstmitleid und heult sich unentwegt beim Barmann Lionel aus. Lionel pflegt zuhause seinen alten tyrannischen Vater und engagiert für die Abende Charlotte, eine sehr fromme und offenbar auch alleinstehende Frau, die den wilden Herren schließlich mit einer gekonnten Stripteasedarbietung zur Räson bringt. Charlotte und Thierry arbeiten im gleichen Büro, und eines Tages bietet sie ihrem Kollegen ein Videoband an, auf dem sie zu seiner grenzenlosen Verblüffung ebenfalls in Strapsen und Sexposen zu bewundern ist, was wiederum seine Liebe zu ihr noch stärker entfacht. Gaëlle, die ihrem Bruder gegenüber vorgibt, die Abende im lustigen Frauenklübchen zu verbringen, sucht per Internet Männerbekanntschaften, hockt allerdings weitgehend allein in Bars und Kneipen, und trifft schließlich auf Dan, den Nicole rausgeworfen hat und der nun ebenfalls sein Glück per Kontaktanzeige versucht. Die beiden verstehen sich auf Anhieb sehr gut, doch Nicole platzt unwissentlich dazwischen und die zarte Band ist zerstört. Zarte Bande entspinnen sich auch zwischen Lionel und Charlotte und vielleicht sogar andeutungsweise zwischen Thierry und Nicole, doch kommt in keinem Fall etwas Greifbares zustande, und so sind die sechs Akteure am Ende genau so allein wie zu Beginn.

 

   Alan Ayckbourn, der ja schon die Vorlage zu Resnais’ grandiosem „Smoking/No smoking“ lieferte, hat ein Stück mit dem schönen Namen „Private fears in public places“ verfasst, und dieser Titel scheint die Essenz der einzelnen Geschichten sehr treffend zu umreißen, denn zum einen treffen sich die Personen häufig an öffentlichen Orten, in Bars, im Hotel, im Büro, in leerstehenden Wohnungen, andererseits verhandeln sie dort jeweils äußerst private Dinge, nämlich fast ausschließlich ihre Herzensangelegenheiten und offenbaren sich sämtlich als sehr verletzliche und wahrscheinlich auch verletzte Menschen. Resnais findet einen ruhigen, sehr intimen, zarten Ton, die Stimmungen sind gedämpft, getragen, zwischendurch kommt glücklicherweise auch etwas leichterer Humor durch, aber sonst rieselt der Dauerschnee auf Missverständnisse, Lebenslügen und jede Menge unerfüllte Sehnsucht. Das Geschwisterpaar, das sicherlich nicht aus freien Stücken zusammenlebt, sondern sich in seiner Einsamkeit aneinander klammert, wobei die wirklich tiefen Gefühle allerdings außen vor und unausgesprochen bleiben. Die fromme Charlotte, die immer die Bibel zu Hand hat und sich gleichzeitig in heißen Videos auslebt. Der pathetische Loser Dan, der des zuletzt immerhin schafft, seine Niederlagen einzugestehen und der damit fast eine andere Frau für sich gewinnt. Der Barmann Lionel, der immer nur für andere zu leben scheint und seine eigene Befindlichkeit nicht recht zum Ausdruck bringen kann. Die frustrierte Nicole, die vergeblich auf ein Lebenszeichen ihres Partners wartet und sich schließlich allein eine Wohnung sucht. Da Resnais die äußere Handlung auf das Minimum reduziert, bleibt man zwangsläufig auf die Schauspieler angewiesen und die sind allesamt fabelhaft, halten eine wunderbare Balance zwischen leiser Komik und leiser Trauer und machen jede Minute des Films sehenswert und ereignisreich. Besonders liebe ich es ja immer, Sabine Azéma dabei zuzusehen, wie sie sich mühelos zwischen Clownerie und Melodrama bewegt und jede ihrer Szenen eine besondere Intensität gibt, aber alle anderen tun es ihr im Grunde gleich, das Ensemble ist homogen und bemerkenswert, wie überhaupt der gesamte Film einmal mehr bemerkenswert ist, wenn man Resnais’ eigenartiges Universum im Prinzip akzeptieren mag. Seine Filme sind nicht mehr so vertrackt wie einst in seinen Anfängen, aber sie sind andererseits auch leichter und weniger prätentiös geworden, zeichnen sich durch einen schönen selbstironischen Humor aus, nur verlangen sie natürlich weiterhin Geduld und Aufmerksamkeit. „Kunst“ halt in wahren Sinne, und wer diesem Begriff misstrauisch gegenübersteht, sollte es vielleicht besser nicht mit Resnais versuchen. Ich hab grad im Netz gelesen, dass es nach „Das Leben ist ein Chanson“ noch einen Film gab, „Pas sur la bouche“ von 2003 nämlich, der aber hierzulande nirgendwo zu sehen war – natürlich nicht, möchte ich fast sagen – und hier wäre dann mal wieder das Fernsehen gefragt, Versäumtes nachzuholen. Ich bitte darum! Außerdem bitte ich noch darum, dass der Jungbrunnen nie versiegen möge... (29.3.)