Import Export von Ulrich Seidl. Österreich, 2007. Ekaterina Rak, Paul Hofmann, Michael Thomas, Marla Hofstätter, Herbert Fritsch, Brigitte Kren, Georg Friedrich, Susanne Lothar
Im Programmheft las ich was von „donnernder Stille“, die der Film angeblich hinterlässt. Nun liest man ja in Programmheften gewöhnlich den größten Quatsch, aber diesmal ist das gar kein so schlechtes Bild, finde ich im Nachhinein, denn irgendwie ist man schon ein wenig sprachlos, wenn man nach einhundertfünfunddreißig Minuten etwas erschlagen und zugleich auch erleichtert wieder in die Freiheit entlassen wird, doch ist dies gottlob keine Sprachlosigkeit, die das Hirn außer Funktion setzt. Im Gegenteil, ich für meinen Teil war noch lange mit dem Gesehenen beschäftigt und bin es noch, und das allein sagt schon etwas über die Qualitäten dieses außerordentlichen Films.
Wenn man die beiden Österreicher Seidl und Haneke nebeneinander stellt (zumindest Hanekes österreichische Filme), fallen schon ein paar Gemeinsamkeiten auf: Der gnadenlose Blick, der unerbittlich hinschaut, wenn der Zuschauer längst wegsehen möchte, die Vorliebe für krasse, provozierende Bilder und Einsichten, der vermeintlich aussichtslose Pessimismus, hinter dem sich dann doch die humanistische Botschaft oder der sprichwörtliche Hoffnungsschimmer verbirgt, und für den Zuschauer das Gefühl, einen ordentlichen Tritt in den Magen bekommen zu haben, von dem man sich nicht immer schnell und leicht erholt. Auch von dem hier nicht.
Zwei Geschichten zwischen Ost und West: Olga lebt mit Mutter und Kind im ukrainischen Plattenbauelend, arbeitet als Krankenschwester und versucht, im Internetsexdienst zusätzlich Kohle zu machen. Schließlich hält sie es nicht mehr aus und fährt nach Wien, wo eine Freundin lebt. Der erste Job als Haushaltshilfe klappt nicht, doch dann landet sie als Raumpflegerin in einer Geriatrieanstalt, und obwohl ihre Erfahrungen dort auch nicht gerade goldig sind, kann sie vielleicht Fuß fassen. Paul lebt mit Mutter und Stiefvater in Wien, versucht sich in verschiedenen Jobs durchzuschlagen und hat ständig Schulden, was ihn in konstante Schwierigkeiten bringt. Der neue Job als Wachmann platzt und es wird Zeit, das Feld zu räumen. Mit dem Stiefvater soll er gebrauchte Spielautomaten in die Ukraine schaffen, und auf dem Weg dorthin macht er allerhand eindrückliche Erfahrungen mit dem Osten. Schließlich ist er von dem Alten so angewidert, dass er allein weiterzieht, einfach drauflos in der Hoffnung, irgendwo schon Arbeit zu finden.
Zwei entgegengesetzte Reisen also, doch hat diese Konstruktion nichts Künstliches oder Forciertes an sich, da Seidl keine Tricks anwendet, die beiden etwas einander begegnen lässt oder ähnliches. Konkret haben sie also nichts miteinander zu tun, grundsätzlich natürlich extrem viel, denn es geht eigentlich um nicht weniger als die condition humaine aktuell im frühen 21.Jahrhundert – hört sich hochtrabend an, ist aber so, nur dass Seidl die große Geste vermeidet. Beide Geschichten enden, wenn man es so sehen will, mit einem offenen Ausklang, einer Perspektive: Vielleicht schafft es Olga, in Wien zu bleiben und genug Geld zu verdienen, um die Mutter und den Sohn zu sich zu holen (obgleich viel dagegen spricht), und vielleicht schafft es Paul, in der Fremde ganz neu anzufangen und alles Alte und Üble hinter sich zu lassen (obgleich wahrscheinlich ebensoviel dagegen spricht). Immerhin zeigt Seidl zwei Menschen, die nicht mehr bereit sind, sich mit ihren gegenwärtigen Lebensumständen abzufinden, einfach alles als gegeben hinzunehmen. Sie tun etwas, verändern etwas, und wenn es nur ist, das sie fortgehen und anderswo ihr Glück versuchen, was sie von einem Großteil ihrer Mitleidenden unterscheidet. Bis es soweit ist, werden uns allerdings menschliches Elend, menschliche Erniedrigung und Erntwürdigung in fast jeder nur denkbarer Form vorgeführt und zwar mit maximaler Deutlichkeit und Eindringlichkeit. Die endlos lange Liste nochmals aufzuzählen wäre vermutlich genauso frustrierend, wie sich das im Film anzuschauen, festzustellen bleibt indes, daß Seidl das Gefälle in der Beziehung zwischen Ost und West unmissverständlich klarstellt: Ukrainische Frauen erniedrigen sich vor Webcams in allen möglichen Sexposen, damit sich Westmänner dazu einen runterholen können. Wenn die Leute dann in den Westen kommen, um dort zu arbeiten, werden sie ebenfalls erniedrigt, behandelt als Menschen zweiter Klasse, die man nach Belieben herumstoßen kann. Und wenn man sieht, wie die Menschen in der Slowakei oder der Ukraine hier leben, muß man wohl von einer existentiell demütigenden Situation sprechen, denn mit Menschenwürde hat das nicht im Entferntesten zu tun. Ich merke dann immer, wie naiv ich als satter Deutscher doch bin, wenn ich auf diese Bilder so entgeistert und fast ungläubig reagiere, aber es ist wohl tatsächlich so, dass ich von hier aus nur cirka fünfhundert Kilometer gen Osten reisen muß, um bestätigt zu finden, dass Seidl absolut nicht übertreibt. Andererseits zeigt er uns ein Wien, das mit der alten K.u.K.-Gloria nichts mehr gemein hat, und dessen Bewohner es deswegen dringend nötig haben, andere noch unter sich zu wissen. Das ist genau wie hier – je angespannter die Lage, desto wichtiger ist es, die Migranten zu haben, auf die man hinabsehen und die man zur Not verantwortlich machen kann. Pauls Stiefvater ist solch ein Subjekt, der sich im Osten auch gleich eine Prostituierte kauft, an der er seine Machoallüren ausleben kann. Hier wird die direkte Erniedrigung des Ostens unter den Westen auf brutalste Weise sinnfällig, und Seidl kennt mit den Zuschauern kein Pardon, sondern zieht die bittere Szene bis zum Schluß durch. Immerhin dient sie Paul als Antrieb, sich endgültig von dem alten Mistkerl zu distanzieren und seien eigenen Wege zu gehen. Umgekehrt schildert Seidl sehr ausgiebig Olgas Erlebnisse im Altenheim, das eher einer Verwahranstalt ähnelt mit Achtbettzimmern und erbärmlichsten Verhältnissen. Hier noch die Menschlichkeit hochzuhalten, ist schon eine besondere Aufgabe, doch Olga als ausgebildete Krankenschwester versucht dies gegen den fiesen Widerstand des etablierten Personals. Sie versucht die Bewohner (fast möchte man von Insassen sprechen) als Menschen zu behandeln und ihnen etwas Wärme zu geben und hält daran auch dann fest, als sie von einer Pflegerin wütend und eifersüchtig attackiert wird. Trotz Einsamkeit und Verzweiflung zeigt sie eine Stärke, auf die Seidl Wert legt und die allein es ihr ermöglicht, all das zu verkraften, was sie erlebt.
Dies ist wie gesagt kein angenehmes Konsumerlebnis – schroffe, triste Bilder dicht dran am Geschehen, Schauspieler, die wirklich alles von sich hergeben und vor nichts zurückschrecken und europäische Impressionen, die uns wirklich fragen lassen, wo denn bitteschön die sogenannte Dritte Welt anfängt und aufhört. Und solange Seidl sein Konzept nicht nur als Pose durchzieht, sondern erkennbar noch tiefer gehende Absichten daran knüpft, ist dies ohne Frage außerordentliches Kino. (24.10.)