Irina Palm von Sam Garbarski. England/Belgien/BRD/Frankreich, 2006. Marianne Faithfull, Miki Manojlovic, Kevin Bishop, Siobhán Hewlett, Dorka Gryllus, Jenny Agutter
Sehenswert ist dieser Film allein schon deshalb, weil er mit tollkühner Akrobatik einen Drahtseilakt vollführt, der in dieser Weise wirklich nur ganz selten gelingt, und Porträts völlig verschiedener Welten und Menschen zusammenführt – das Porträt einer einsamen, verwitweten Frau in den Fünfzigern, die nur für Sohn und Enkel zu leben scheint, das Porträt einer Familie, die durch die lebensgefährliche Krankheit eben dieses Enkels konstant unter höchstem Druck steht, das Porträt einer Kleinstadtgesellschaft außerhalb Londons, wo Standesdünkel und soziale Kontrolle noch lebendige und gelebte Werte sind, und schließlich das gänzlich konträre Porträt eines Großstadtmilieus comme il faut, eines Sexshops in Soho, in den Großmutter Maggie gerät in ihrer verzweifelte Suche nach einem einträglichen Job, der ihrem Enkel die lebensrettende OP in Australien ermöglichen soll. Wie in Trance erlebt Maggie ihre erste Konfrontation mit dieser Welt, und als sie wieder zu sich kommt, findet sie sich in einem kleinen Raum wieder, dessen eine Wand ein Loch hat. Durch diese Loch stecken die Kunden ihre Schwänze, und Maggies Aufgabe ist es nun, den Jungs einen runterzuholen. Clubchef Miki versichert ihr, bei entsprechendem „Erfolg“ könne sie damit viel Geld machen, und zu ihrer eigenen Überraschung entpuppt sich Maggies Rechte tatsächlich als außerordentlich begabt, denn alsbald stehen die Jungs bei ihr Schlange, während die Kollegin Luisa, die Maggie „angelernt“ hatte, zunehmende Flaute verzeichnet und schließlich ihren Job verliert. Maggie, die von Miki bald den Künstlernamen Irina Palm erhält, schafft es eine Zeitlang, ihr Doppelleben geheim zu halten und eine Menge Geld zu sparen, doch irgendwann kommt ihr Sohn doch hinter ihr Geheimnis und die erwartete Krise bricht los.
Das ist mal ganz ruhig, ernst und ziemlich traurig und dann wieder markerschütternd komisch, ziemlich präzise und prägnant im Detail der Milieuschilderung und insgesamt um keine Minute zu lang. Garbarski verzichtet auf jegliche Ausschmückung, ihm reichen wenige knappe Szenen, um Maggies Welt erschöpfend zu umreißen: Der etwas phlegmatische Sohn, der für den Geschmack seiner jederzeit kampfbereiten Gattin noch immer zu sehr an Mama Rockzipfel hängt, weswegen endloses Gezicke vorprogrammiert ist (Szenen von geradezu schmerzhafter Alltagstauglichkeit!), die leere Tristesse ihres eigenen Daseins, das nach dem Tod des Gatten den alten Fokus verloren hat, ihre Hingabe für den Enkel, den neuen Fokus eben, dem sie doch nicht ihre ganze Liebe geben darf, weil die ewig eifersüchtige Schwiegertochter voller Abneigung und Missgunst im Hintergrund lauert. Irina weicht diesem Konflikt aus, wie sie wahrscheinlich immer jedem Konflikt ausgewichen ist, und umso erstaunlicher und faszinierender ist es dann, wie welch stoischer Unbeirrbarkeit sie später ihren Weg geht, der sie zwar geradewegs in die Sündenhölle führt, der aber, so wie sie es sieht, der einzig gangbare ist, denn nur im Sexbusiness verdient sie in kurzer Zeit genug, um ihrem Enkel wirklich helfen zu können. Ihr Aufeinandertreffen mit Miki und seinem Milieu ist einerseits haarsträubend und grotesk, andererseits auch von stillerer, nachdenklicherer Komik, denn immerhin werden hier ganz ernsthaft und durchaus mit Würde Existenzen präsentiert, die sich zwar sehr am Rand der normal bürgerlichen Moralvorstellungen bewegen, die aber ganz genau so ihre Berechtigung haben wie die vermeintlichen „ehrenwerten“ Leute, die, das wissen wir ja nicht erst seit diesem Film, unter ihrer anständigen Fassade oft die gleichen weltlichen und banalen und physischen Wünsche und Begierden verbergen wie alle anderen auch. So rümpfen Maggies Freundinnen beim Nachmittagstee in gediegener Runde auch nur fürs Protokoll ein wenig ihre spitzen britischen Näschen, kurz danach interessieren sie sich dann doch unter verlegenem Gekicher für die Größe der „Klienten“, mit denen Maggie beruflich so zu tun hat. Sowieso kommt moralische Entrüstung hier sogleich wie ein Bumerang zurück, so wie Maggies „Freundin“ es erleben muß, als sie im Dorfladen vor versammelter Mannschaft abfällig über Maggie herzieht, nur um vor dieser dann im Gegenzug darüber aufgeklärt zu werden, dass sie sehr wohl von der Affäre mit ihrem Mann wusste, die die Freundin offenbar längere Zeit unterhielt. Maggie beweist in ihrer Art, ihren Weg gegen alle Widerstände zu gehen, eine enorme Stärke, die in ziemlichem Gegensatz zu ihrer unauffälligen, eher schüchternen und defensiven Erscheinung steht. Sie überwindet sämtliche persönlichen Hürden, Ekel, Abscheu, auch gegen sich selbst, Angst und vor allem Scham, sie macht aus ihrer Tätigkeit einen Hausfrauenberuf mit Kittelschürze, Topfblume und Desinfektionsmittel, der gewissenhaft und gründlich ausgeübt wird wie jeder andere und der auch Verschleißkrankheiten nach sich zieht wie jeder andere, zum Beispiel den berüchtigten „Penisarm“, den sich Maggie zwischendurch einfängt und der sie dazu zwingt, vorübergehend auf links umzusatteln, sehr zu Mikis Beunruhigung, hat er ihr doch soeben attestiert, die beste rechte Hand Londons zu haben. Daß es zwischen diesen beiden scheinbar so gegensätzlichen Menschen dann auch noch zu einer Liebesgeschichte kommt, hätte für meinen Geschmack nicht sein müssen, denn es ist genug damit getan, dass Maggie sich schließlich durchsetzen, das Geld verdienen kann und auch noch Stolz genug besitzt, nicht mit nach Australien zu fliegen, denn obgleich Sohn und Schwiegertochter zwischendurch Abbitte leisten müssen, weiß Maggie zu genau, dass sie doch nur stört und immer stören wird. Auf ihre Art hat sie Bemerkenswertes geschafft, da hätte sie meinetwegen nicht gleich eine ganz neue Existenz aufbauen müssen, aber vielleicht bin ich ja auch zu zaghaft und kleinkariert für so was.
Insgesamt ein sehr ruhig und sanft inszenierter, hinreißend gespielter Film (vor allem das Paar Faithfull – Manojlovic ist natürlich sein Geld wert), der eine mehr als ungewöhnliche Geschichte so selbstverständlich erzählt, als sei gar nichts dabei. Und vermutlich ist genau dies eine seiner Botschaften – wenn man dieses Wort in diesem Fall überhaupt verwenden soll. (20.6.)