Vier Minuten von Chris Kraus. BRD, 2006. Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung, Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabai, Vadim Glowna, Stefan Kurt, Nadja Uhl, Peter Davor

   Eigentlich ist so was nicht mein Fall: Die Kunst als der Weg, um zu sich selbst zu finden oder zu seiner Freiheit oder zu was auch immer (womöglich noch mit einer Erfolgsgeschichte verknüpft). Oder das Leben als Schlachtfeld der Emotionen und Leidenschaften (so wie bei Werner Schroeter – Gott behüte!), da fehlt mir wohl die nötige Bereitschaft zur Emphase in meinen Genen. Weshalb ich anfangs auch eher abgeneigt war, diesen Film im Kino zu sehen und mich nur von einigen sehr verlockenden Kritiken dazu hinreißen ließ. Ich weiß, ich wollte nie wieder irgendwas auf Kritiken geben, aber manchmal ist es doch gar nicht so schlecht, mal eine Ausnahme zu machen.

   Autor/Regisseur Chris Kraus tischt uns ein randvolles Drama auf, in dessen Zentrum zwei Frauen stehen, eine alte und eine junge. Die alte, Traude, arbeitet als Klavierlehrerin für ein Gefängnis und hat erwartungsgemäß eine Vergangenheit – einst während des Krieges liebte sie als Lazarettschwester eine Kommunistin, doch diese Liebe fand nicht statt, weil die Kommunistin von den Nazis ermordet wurde. Seither hat Traude nie wieder eine Frau geliebt und ihr Leben ganz der Kunst gewidmet, hat sich strengen Benimmregeln und einer noch strikteren Disziplin verpflichtet, um all den Schmerz und ihre Gefühle zu ersticken und zu vergessen. Die junge, Jenny, sitzt wegen brutalen Mordes im Knast, und Traude, die ihr Talent sofort erkennt, versucht nun, aus ihr eine „ordentliche“ Pianistin zu machen, wobei „ordentlich“ für sie bei Schubert, Schumann, Mozart aufhört. Die beiden grundverschiedenen Charaktere krachen also mit Wucht aufeinander, und alle, die sich unglücklicherweise in ihrem Dunstkreis aufhalten, kriegen ihren Teil ab. Ein Knastwärter wird vermöbelt, eine fiese Mitinsassin desgleichen, und außerdem bricht Jenny gern mal aus dem öden klassischen Kanon aus und versucht sich an modernen Klängen, die von Traude sogleich pauschal als „Negermusik“ abqualifiziert werden. Dennoch finden die beiden irgendwie zueinander, weil Traude nicht locker lässt und auch harte Rückschläge tapfer einsteckt, und Jenny ihrerseits langsam aber sicher so etwas wie Respekt für die alte Frau entwickelt, die sich in ihrer herben, asketischen Art jegliche Art von Freude zu entsagen scheint. Noch dramatischer wird’s, als Jennys Vater auftaucht, der seine Tochter missbraucht und sie ins Elend geschickt hat, ihr nun aber plötzlich helfen will. Jenny rastet total aus verliert alle Freiheiten und darf an dem Wettbewerb „Jugend musiziert“ eigentlich nicht teilnehmen, doch Traude hilft ihr zu fliehen und den einen großen Auftritt, vielleicht ihren einzigen, auszukosten, auch wenn dieser Auftritt nicht die brave Schumann-Nummer wird, die man einstudiert hatte.

 

   Es wird also geliebt und geprügelt, gelitten und gehasst, man reibt sich aneinander und am eigenen Schicksal auf, man spuckt auf sein Talent und auf die Chance, die es einem vielleicht eröffnet, man kämpft gegen alles und jeden. Jenny trägt immer mehr oder minder frische Wunden und Narben im Gesicht und an den Händen, Zeugnisse ihrer unentwegten Kämpfe gegen ihre Umwelt, die bei ihrem wüsten Temperament zumeist einen überaus physischen Charakter haben. Wenn sie loslegt fliegen die Fetzen, wird gedroschen und gequetscht was das Zeug hält, und sie muß auch eine Menge einstecken. Schumann und Schubert können als Ventil nicht reichen, da muß es auch mal eine freie, perkussive Improvisation mit Handschellen sein, auch wenn Traude das nicht begreift. Traude lebt nur für Musik, das sagt sie Jenny ganz offen, sie interessiert sich weder für die Person noch für ihre Situation, sie interessiert sich nur für die außergewöhnliche Begabung, aus der nach ihrer Auffassung geradezu eine Verpflichtung erwächst. Die zwischendurch immer mal wieder eingeschnittenen Rückblenden zeigen aber, dass sie einst natürlich eine andere war, und dass es einen Grund gibt für das introvertierte, verhärmte Bild, das sie nun abgibt. Auch für Hannahs Wut gibt es einen Grund, den wir ebenfalls erfahren, obwohl ich in diesem Fall gar nicht weiß, ob ich ihn überhaupt gebraucht hätte, denn die Mißbrauchsgeschichte, so doof das vielleicht klingt, ist alles andere als neu, und das Auftauchen des Vaters Vadim Glowna eine zwiespältige Angelegenheit, die im Film für meinen Geschmack nicht ausreichend motiviert ist. Überhaupt habe ich viele der Nebenrollen, allesamt übrigens sehr prominent besetzt, als eher überflüssig empfunden (bis auf die von Tabatabai und Pippig), denn das spannendste an dem Film ist ohne Frage die Beziehung zwischen Traude und Jenny und da gelingen Kraus auch die intensivsten, schönsten, spannendsten Szenen, während vieles drumherum, die albernen Sitzungen des Anstaltspersonals, die Figur des Leiters oder die des neugierigen Reporters, recht entbehrlich dagegen wirkt. Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung leisten in ihren Rollen allerdings Spektakuläres, spielen sowohl emotional als auch physisch unerhört beeindruckend, sodaß man sowieso nur darauf wartet, die beiden wieder zu sehen. Es gibt toll getimte Szenen von großer dramatischer Kraft, und viel von der grundsätzlichen Überladenheit des Drehbuchs wird durch diese Kraft und durch die Klasse der Schauspieler aufgefangen, und wenn die Dramaturgie gelegentlich mal etwas aus der Reihe bricht und sich auch die eine oder andere Länge einstellt, kriegt Kraus die Zügel doch recht bald wieder in die Hand. Wie gesagt, die Story an sich berührt mich wenig, doch die Gestaltung und vor allen die beiden Hauptdarstellerinnen machen doch ein weitgehend sehenswertes Drama daraus. (8.2.)