Half Nelson (#) von Ryan Fleck. USA, 2006. Ryan Gosling, Shareeka Epps, Anthony Mackie, Monique Gabriela Curnen, Karen Chilton, Tina Holmes

   Idealistischer weißer Lehrer versucht schwarzen Ghettokids zu Geschichtsbewusstsein und Identität zu verhelfen – das gab’s schon in etlichen Kitschproduktionen, schon vor fünfzig Jahren übrigens, und das wollte ich ganz bestimmt nicht sehen. Habe ich auch nicht, denn „Half Nelson“ umgeht die ständig drohenden Untiefen dieses Themas bemerkenswert souverän und beeindruckt auf jeden Fall als milieuechtes, toll gespieltes psychologisches Drama. Die Handkamera fängt die Straßen und Orte in Brooklyn sehr intensiv ein, man sieht eine Seite von New York, die man bestimmt nur selten bisher sah, und doch sind die Probleme dort jederzeit wieder erkennbar. Dan unterrichtet an einer mangelhaft ausgestatteten Schule für Kinder, die von vornherein keine Chance haben, weil sie im US-System in der Kategorie „Loser“ laufen, und Biographie der meisten von ihnen scheint dem System recht zu geben. Dan ignoriert das formelhafte Kurrikulum, er will den Kids was über Dialektik, über Strukturen und Ursachen beibringen, er will sie dazu bringen, die Augen aufzumachen und nachzudenken über die Verhältnisse, über Gegensätze und darüber, dass trotz allem jeder Teil eines komplexen und geschlossenen Mechanismus’ ist. Mal scheint er damit Erfolg zu haben und mal glotzen ihn die Kids verständnislos bis amüsiert an, und ständig sitzt ihm die Schulleiterin im Nacken und wedelt mit dem Unterrichtsbuch. Der Film biegt in dem Moment von der erwarteten Route ab, als wir Dan beim Crackrauchen in der Umkleidekabine sehen und er von der 13-jährigen Drey gefunden wird, die ihm hilft und ihn auch nicht verpfeift. Er ist ein Junkie, der die Situation nicht in den Griff kriegt, anders als die Exfreundin, die clean ist und kurz vor der Hochzeit steht, was ihn zusätzlich frustriert. Daheim bei Mom & Dad gibt’s wie gehabt nur hohle Sprüche, und so hat er niemanden, der ihm aus dem Sumpf helfen kann. Drey ihrerseits kriegt Probleme, als Frank, der Freund ihres inhaftierten Bruders aufkreuzt, einen auf Beschützer und guter Onkel macht, sie aber eigentlich nur dazu einspannen will, den Stoff zu verteilen. Der Kreis schließt sich, als Drey in die Crackparty ihres eigenen Lehrers platzt und ihm den Stoff verkauft, und obwohl dies in vieler Hinsicht der Tiefpunkt für beide ist, erkennt zumindest Drey, wie recht Dan mit seiner Dialektik hatte, denn tatsächlich erweisen sich die beiden - schwarz und weiß, alt und jung – bei aller Gegensätzlichkeit doch als Teil eines Kreislaufs, der sich immer wieder selbst speist. Während Dan unaufhaltsam auf den totalen Absturz zuläuft, kann Drey ihren Kurs ändern, kann Frank eine Absage erteilen und macht den Versuch, Dan wieder auf die Beine zu helfen, dies allerdings mit ungewissem Ausgang. 

 

   Zwischendurch hängt die Dramaturgie ein bisschen, als man das Gefühl bekommt, dass sich nichts mehr tut. Wir erleben Dan nur noch stoned, zwischen mühsam bewältigtem Beruf und einer Affäre mit einer Kollegin, von der er sich auch nicht helfen lässt, und wir erleben Drey privat mit ihrer Mutter, einer Polizistin, die immer nur auf Streife geht, und mit Frank, der gar nicht mal ein so übler Kerl zu sein scheint, letztlich aber doch nur ein Dealer ist. Diese Konstellation ist nach einer halben Stunde weitgehend etabliert, doch von dort an tut sich nicht mehr viel, bis ganz zum Schluss bei dem erwähnten Aufeinandertreffen der beiden auf Dreys abendlicher Dealertour. So richtig gestört hat mich das aber nicht, denn die Milieuschilderungen sind so spannend und die Schauspieler so gut, dass ich der Geschichte gern auch so gefolgt bin und darauf gewartet habe, dass sich wieder irgendetwas Entscheidendes ereignet. Gosling und Epps spielen sehr stark zusammen und bringen sehr viele Zwischentöne ein, denn dies ist keine banale Lehrer-Schüler-Liebelei, sondern geht viel weiter. Drey muss in vieler Hinsicht ihr Leben schon in die eigene Hand nehmen, weil die Mutter nicht kann und der getrennt lebende Vater offenbar nicht will, und Dan wiederum ist in vieler Hinsicht ein kleiner, verletzter, unselbständiger Junge, der zwar ein toller Lehrer sein mag, drumherum aber sein Leben überhaupt nicht im Griff hat. Ryan Fleck und der Co-Autorin Anna Boden gelingt eine überzeugende Verknüpfung von privatem Drama und sozialer Perspektive, ohne dass simple und klischeehafte Schuldzuweisungen ausgesprochen werden, und vor allem ohne dass es die in solchen Filmen sonst unausweichliche Lösung am Ende gibt, denn die Verhältnisse sind so fest betoniert und Dan steckt so tief in seiner Sucht, dass ein Ausweg eher unwahrscheinlich ist. Trotz des Durchhängers im Mittelteil also bestes Independentkino aus den Staaten, von dem ich, wie ich wahrscheinlich schon tausendmal sagte, gern mehr sähe. (8.4.)