Ricky (#) von François Ozon. Frankreich/Italien, 2009. Alexandra Lamy, Mélusine Mayance, Sergi Lopez, Arthur Peyret, André Wilms

   Solche Filme gibt es nur ganz selten, aber es gibt sie: Man hockt neunzig Minuten lang nonstop auf der Kante seines Sitzes, ständig in gespannter oder auch banger Erwartung dessen, was gleich um die nächste Ecke kommen mag, denn spätestens nach der Hälfte der Laufzeit erkennt man, dass dieser Film absolut unberechenbar und unvorhersehbar ist, dass er sich jederzeit in jede beliebige Richtung drehen kann und dies vor allem auch tut.

   Er beginnt als einfache Mutter-Tochter-Geschichte im tristen Sozialwohnungsmilieu, entwickelt sich dann, als der Spanier Paco in das Leben der beiden tritt, rasch zu einem Familiendrama, das nach der Geburt des kleinen Ricky, den ersten beunruhigenden Hämatomen an dessen Schulterblättern und seinem auffällig vielen Schreien rasch düstere und bedrohliche Züge annimmt, streift dann kurz den unappetitlichen Mutantengrusel eines David Cronenberg, als dem kleinen Jungen urplötzlich nackte Flügel aus dem Rücken brechen, und mündet schließlich in ein skurriles Fantasymärchen, in die Stimmung allerdings auch jederzeit wieder ins Dramatische kippen kann. Zuletzt entgleitet das beschwingte Baby der Familie mehr und mehr und fliegt ihr buchstäblich davon. Mutter Katie kämpft mit ihrer Trauer, doch nach einer weiteren Begegnung mit dem sichtlich heranwachsenden Vogelkind kann sie ihren Frieden mit sich und ihrer Situation machen und sich wieder ganz auf Paco und ihre Tochter Lisa einlassen.

   Ein etwas träumerischer Ausklang, der keineswegs verdecken kann, dass zwischendrin immer mal der Abgrund droht. Die Idylle zwischen Katie und Paco geht bald in die Brüche, als der physische und materielle Druck auf die Familie wächst, wie sehen Paco mit einer anderen Frau, wir sind ihm gegenüber argwöhnisch und misstrauisch, und als Katie die Verletzungen auf Rickys Rücken entdeckt, haben wir genau wie sie den Sündenbock dafür ausgemacht, und auch als er später rehabilitiert scheint, bleibt unser Gefühl für ihn ambivalent. Das gilt für sämtliche der hier beteiligten Personen, und es ist ein besonderes verdienst des Regisseurs und seiner überragenden Darsteller, dass sie dieser Ambivalenz dennoch eine menschliche, emotionale Seite gegeben haben. Katie ist eine noch junge, doch bereits etwas verhärmte, abgearbeitete alleinerziehende Mutter, die sich auch nur nach Liebe und ein wenig eigenem Leben sehnt, und immer wieder überfordert ist, wenn sie versucht, alle Interessen unter einen Hut zu bekommen. Was Ricky angeht, zeigt sie sich häufig vernagelt und blind für die Realität, will ihn gegen die wohlmeinende Meinung eines Arztes unbedingt selbst aufziehen, übersieht dabei die Gefahr für ihn und auch die Tatsache, dass sie gleichzeitig ihre Tochter Lisa total vernachlässigt. Lisa wiederum ist ein stilles Mädchen, das zunächst vor allem die erschöpfte Mutter antreiben und sich später dann mit der Rolle der zweiten Geige zufrieden geben muss, weil Ricky natürlich total im Mittelpunkt steht. Hinter ihrem traurigen, dunklen Blick könnte zwischen Wut und Trauer, Liebe und Hass alles mögliche verborgen sein, und es ist absolut bemerkenswert, dass es der jungen Darstellerin so vorzüglich gelungen ist, diesen spannungsreichen Schwebezustand bis zuletzt aufrecht zu erhalten. Paco schließlich, eine Paraderolle für den fabelhaften Sergi Lopez, ist auf den ersten Blick mal wieder der nette tapsige Kerl mit den netten, ehrlichen Augen, und erst allmählich offenbart er auch andere Seiten seines Charakters, als die erste große Liebe zwischen Katie und ihm abgeflaut ist und sich der zähe, zermürbende Alltag durchgesetzt hat. Plötzlich nimmt er es mit der Verantwortung nicht mehr so genau, kommt spät und mit offenbar erfundenen Erklärungen nach Hause, und als Katie ihn wütend zur Rede stellt, wird er endgültig zu einem gewöhnlichen bölkenden Macho, der nur noch seine Ruhe haben will. Obwohl wir ihn nicht explizit als gewalttätig erleben, mögen wir seinen Unschuldsbeteuerungen im Zusammenhang mit Rickys Hämatomen nicht recht glauben, ebenso sind wir bei seiner späteren Rückkehr und Katie und Lisa misstrauisch, weil wir einfach nicht genau wissen, wie wir ihn einschätzen sollen.

 

   Ozon hat dies mit täuschend leichter, flüssiger Eleganz erzählt, die die abrupten Stilbrüche umso frappierende erscheinen lässt. Man folgt dem Geschehen mit einer Mischung aus Befremden, Faszination und Unbehagen, weil wie gesagt hinter der nächsten Kurve ständig irgendetwas Katastrophales geschehen könnte und die Hoffnung auf ein friedliches, schönes Ende von Anfang an auf Sand gebaut ist. Es fällt mir schwer, diesem Film irgendeine konkrete Absicht oder eine konkrete Aussage zuzuschreiben, vielmehr sieht es nicht so aus, als habe Ozon derartiges überhaupt im Sinn gehabt, sondern als sei es ihm vor allem darauf angekommen, mit unseren Erwartungen, Gewohnheiten und Gefühlen zu jonglieren und zu manipulieren, und dies ist ihm meiner Meinung nach virtuos gelungen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass mancher Zuschauer ablehnend oder gar abgestoßen reagieren könnte, hingegen kann ich es mir kaum vorstellen, dass dieser Film irgendjemanden unbeteiligt, unberührt gelassen haben könnte. Eine meisterliche Inszenierung einer höchst ungewöhnlichen Geschichte, ein Film, den man wirklich gesehen haben muss, den man kaum angemessen nacherzählen kann. (27.5.)