Bal (Honig) von Semih Kaplanŏglu. Türkei/BRD, 2009. Bora Altaş, Erdal Beşikçioglu, Tülin Özen, Alev Uçarer, Ayşe Altay

   Das ist so ein Film, von dem man mit Recht sagen kann, er sei völlig aus der Zeit gefallen. Das hat hörbare Folgen: Unruhiges Stuhlrutschen links, ratloses Flüstern weiter vorne, erleichtertes Seufzen oder je nachdem auch verärgertes Schnaufen mit Abrollen des Nachspanns. Auf der Treppe nach unten dann die vertraute Frage: Hast du jetzt kapiert, worum’s da gehen sollte...? Vor vielleicht zwanzig Jahren hätte es, glaube ich, diese Reaktion in dem Maße noch nicht gegeben, da waren unsere Konsumgewohnten noch ein kleines Stück flexibler und noch nicht ganz so vom allmächtigen 3-D-Rausch blockiert und gelenkt. Ein Film, der  nur durch seine Bilder wirken, der einfach nur als Meditation verstanden werden, keine große Geschichte erzählen will, der Menschen in ihrem Alltag zeigt, und zwar einem Alltag, der von unserem Lichtjahre entfernt zu sein scheint, obwohl er im Hier und jetzt angesiedelt ist. Das allein ist immer schon schwierig, und wenn sich der Regisseur dann so wenig bemüht, uns eine Brücke in die fremde Welt zu bauen, dann reagieret unsereiner oft direkt gekränkt. Da ist doch tatsächlich mal einer, der sich nicht dem westlich etablierten Mainstream anbiedert – pfui Deibel!

   Yusuf lebt mit Mutter und Vater in einer entlegenen türkischen Bergregion, wo die Leute ihr Auskommen noch so verdienen wie seit Hunderten von Jahren. Der Vater Yakup ist Imker, die kleine Familie lebt vom Honig, und als die Ernten schlecht werden, muss Yakup immer weitere Wege ins Umland zurücklegen, um doch noch irgendwo Honig zu finden. Die Frau wartet ängstlich, als er länger ausbleibt als verabredet, und wie wir schon zu Beginn sehen und ahnen, ist diese Angst berechtigt, denn Yakub stürzt bei dem Versuch ab, einen hohen Baum zu erklimmen.

   Äußere Handlung also gleich Null, und dennoch wird viel gezeigt hier. Wir erleben die Welt aus Yusufs Sicht, ein kleiner Junge mit wachen Sinnen und stockender Sprache, weshalb er wenig spricht, in der  Schule ausgelacht wird beim Vorlesen und sich mit dem Vater meistens flüsternd unterhält, denn Flüstern klappt am besten. In der Schule ist er meistens ein wenig außen vor, schließt sich den spielenden Kindern in den Pausen nicht an, er beobachtet lieber, erforscht seine Wahrnehmung, folgt dem Vater  in den Wald, sieht der Mutter im Haus bei der Arbeit zu, oft jedoch aus sicherer Entfernung, gerne auch versteckt, so als wolle er seine Wahrnehmung ganz für sich haben und erst mal sichern vor dem nächsten Schritt. Nicht nur in der Schule ist er ein stiller, zurückgezogener Zeitgenosse, auch im Betkreis der Großmutter, auf dem großen Markt draußen vor dem Dorf, sogar in der eigenen Familie, wo er wenig spricht, wenig von sich preisgibt. Diese Haltung prägt den Film, und so ist der dann auch, und wenn man sich für hundert Minuten darauf einlassen kann, erlebt man etwas Seltenes und Besonderes, jedenfalls was das heutige Kino angeht: Ruhe und Kontemplation statt Krawall und Effektgewitter. Man hat Zeit, Farben und Stimmungen auf sich wirken zu lassen, ihnen genauso nachzuspüren wie Yusuf es tut. Man hat die Ruhe, Laute wahrzunehmen, den Regen, den Wind, die Natur im ganzen. Man ist den Menschen irgendwie nahe, ohne gleich in sie einzudringen, ihre inneren Geheimnisse auszuloten, man tastet sich an ein Leben heran, das mit unserem auf den ersten Blick nichts zu tun hat. Fast erleichtert nehmen wir die uns bekannten Konsumembleme zur Kenntnis, als Yusuf mit der Mutter auf dem Markt ist, und da steht gottseidank ein Langneseschirm und die jungen Leute tragen die gleichen Klamotten wie wir. Für uns Zeichen von vertrauter Zivilisation und Sicherheit. Langnese ist überall. Aber sonst haben wir es mit einer archaischen Gesellschaft zu tun, die von Traditionen und Werten geformt ist, mit denen wir schon lange nichts mehr zu tun haben. Yusufs Familie ist Teil des festen Verbundes im Dorf, in den abgelegeneren Höfen, man sieht sich, tauscht Waren, ist füreinander da und muss darum auch nicht viele Worte machen. Die Frauen haben ihre eigenen Kreise, die Männer drehen Seile, und sind in den großen Wäldern unterwegs, die ihnen weniger und weniger als Lebensgrundlage dienen können.

 

   Das Schöne an dem Film ist, dass er mir selbst Zeit und Raum gibt, den Blick und die Gedanken schweifen zu lassen und dem nachzuspüren, was ich sehe. Das ist eine in unserer Filmkultur seltene Qualität, man assoziiert sie eher mit asiatischen Filmen (manchen auch nur!), und auch so gesehen ist dies ein Film, der deutlich aus dem Rahmen fällt, der natürlich Geduld und ein Einlassen erfordert, der beides aber reichlich belohnt mit ungewohnter Schönheit und Tiefe. (17.9.)