Katyn (Das Massaker von Kartyn) von Andrzej Wajda. Polen, 2007. Maja Ostaszewska, Artur Zmijewski, Magdalena Zielecka, Danuta Stenka, Andrzej Chyra, Agnieszka Glinska, Maja Komorowska

   Nochmal ein Kapitel Stalinhorror, diesmal aber gottseidank von einem, der nicht nur theoretisch betroffen ist, der wirklich etwas dazu zu sagen und ein Anliegen zu vertreten hat. Dieses Anliegen geht, wie deutlich im Film spürbar ist, über den eigentlichen Anlass hinaus, denn obgleich natürlich das Massaker von Katyn im Vordergrund steht, habe ich den Film darüber hinaus als ein Stück polnischer Traumabewältigung verstanden, denn traumatisch sind die darin geschilderten Ereignisse allemal.

   Die Geschichte ist allgemein bekannt: Im Frühjahr 1940, ein halbes Jahr nach ihrem Einmarsch in die polnischen Ostgebiete, parallel zum Einmarsch Hitlers von Westen also, ermordeten russische Truppen auf Stalins ausdrücklichen Befehl insgesamt mehr als zwanzigtausend polnische Offiziere, Intellektuelle und andere an verschiedenen Orten und verscharrten sie in Massengräbern in Wäldern. Der Ort Katyn war nur einer von vielen Schauplätzen, hier kamen mehr als viertausend Menschen ums Leben, und weil dieses Massengrab als erstes entdeckt wurde, wird der Name Katyns als Synonym für den gesamten Massenmord genommen. Die Propagandamaschinerien der beiden Kriegsgegner liefen sogleich auf Hochtouren, die Russen und die Deutschen lasteten sich das Massaker gegenseitig an, und die rigorose, ideologisch verbrämte Vertuschungspolitik wurde von den Russen auch nach Kriegsende fortgeführt, erst recht im besetzten Polen, wo Terror, Verfolgung, Verhaftung und Mord weiter gingen, wo Meinung und Freiheit der polnischen Bevölkerung drakonisch unterdrückt wurden. Wie man weiß, war Gorbatschow der erste, der sage und schreibe fünf Jahrzehnte später die russische Schuld öffentlich eingestand, und seine Nachfolger rückten dann nach und nach die notwendigen Dokumente heraus, die Stalins Verantwortung für die Morde endgültig belegten. Katyn ist mithin nicht nur Synonym für ein monströses Verbrechen, sondern auch für ein System der bewussten Lüge und Propaganda, das sich bis weit über Stalins Zeit hinaus halten konnte und unter anderem die Verdienste der vermeintlichen Entstalinisierung unter Chruschtschow deutlich relativiert.

   Wajda rollt die Ereignisse anhand einiger Einzelschicksale auf, folgt darin einem weitgehend standardisierten Vorgehen, zeigt eine Offiziersfamilie aus Krakau, die Frau, die ihrem in Gefangenschaft geratenen Mann nachreist, die später nach seinem Abtransport nach Osten Jahr für Jahr auf ihn wartet, bis sie endlich sein Tagebuch ausgehändigt bekommt und damit Gewissheit über seinen Tod erlangt. Der Film schildert auch die Bemühungen einzelner Polen, die Wahrheit über die Täter öffentlich zu machen und ihre ermordeten Angehörigen öffentlich zu betrauern, was in jedem Fall von den Autoritäten gewaltsam verhindert wird. Eine resignierte Lehrerin sagt einen Schlüsselsatz, der sich in diesen Film regelrecht eingebrannt zu haben scheint: Ein freies Polen wird es niemals geben – nie. Von dieser bitteren Prämisse geht Wajda aus, indem er ein Land zeigt, das aufs furchtbarste von zwei Terrormächten zerrieben, zerstört, vernichtet wird, die Bevölkerung ermordet, deportiert, entmündigt und erniedrigt, und zwar, und das ist fast das Schlimmste dabei, noch weit über das Ende des Krieges hinaus vom vermeintlichen Retter und Befreier. Erst werden die Polen zwischen zwei Diktaturen zerquetscht, dann nur noch von einer tyrannisiert, doch die Strukturen bleiben auf schreckliche Art die gleichen. Die Menschen resignieren entweder, leugnen die allgemeine bekannte Schuld der Russen und unterwerfen sich dem Gewaltregime, oder sie unternehmen Untergrundaktionen, zumeist mit fatalem Ausgang für sie. Die Russen verweigerten den Polen Wahrheit und Recht und beantworteten jeden „Widerstand“ mit brutaler Unterdrückung. Echte Bruderliebe also.

 

   Der Film beginnt mit einem unvergesslichen Bild: Auf einer Brücke begegnen sich zwei Flüchtlingsströme aus entgegengesetzten Richtungen. Die einen fliehen aus dem Osten vor den Russen, die anderen aus dem Westen vor den Deutschen. Wohin sie sich auch wenden, überall werden ihnen Tod und Verrichtung begegnen. Wajda hat den Untergang Polens auch sonst in starke, emotionale Szenen gefasst, und wer das etwa pathetisch findet, hat weder den Regisseur noch sein Anliegen verstanden. Er hat sich notwendigerweise - denn sonst hätte er einen Dokumentarfilm drehen müssen – ein paar individuelle Schicksale herausgegriffen, doch empfinde ich die weder als pathetisch noch als verharmlosend, im Gegenteil. In sehr stark verdichteten und zudem eindrucksvoll gespielten Szenen wird der Psyche eines bis ins Innerste zerstörten Volkes nachgespürt und die Bandbreite möglicher Haltungen zwischen Anpassung, Denunziation, Resignation und Widerstand präsentiert. Wajda fordert uns als Zuschauer, indem er in der Chronologie springt und mit zunehmender Dauer weniger und weniger erklärt. Personen tauchen ohne große Einführung auf und tragen eine Episode ein Stück weiter, größere Zeitlücken werden nicht mehr durch Einblendungen kenntlich gemacht, sondern müssen aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Das Land versinkt in Düsternis, die Bilder werden dunkler, Jahre vergehen ohne Hoffnung auf Veränderung, das Warten auf ein Lebenszeichen der seit 1940 Vermissten wird früher oder später zum einzig verbliebenen Lebenszweck, weswegen auch die Todesnachricht verdrängt, ignoriert wird. So entwirft Wajda ein beklemmendes, filmisch sehr dichtes Zeitbild aus den späten 40ern und frühen 50ern, bevor er dann, als ich persönlich schon gar nicht mehr damit rechnete, doch noch auf das Massaker selbst zurückkommt, nämlich anhand eines gefundenen Tagebuchs, in dem einer der Offiziere beschreibt, was ihm und den anderen zustößt. Diese letzten fünfzehn, zwanzig Minuten des Films, in denen das grausame, endlose Abschlachten der polnischen Offiziere im Detail vorgeführt wird (unsere deutschen Vernichtungsbürokraten wären stolz auf soviel Effizienz gewesen!), sind schwer erträglich und erinnern an Elem Klimovs apokalyptische Bilder aus „Komm und siehe“. Genau wie Klimov musste Wajda versuchen, Bilder für das Grauen zu finden, genau wie Klimov weiß Wajda aber auch, dass Bilder das Grauen nicht wirklich begreiflich machen. Dennoch ist selten ein Film diesem Grauen so nahe gekommen, wie „Katyn“ in den letzten Minuten, die ich nur mühsam wieder abschütteln konnte. Dies ist ohne Zweifel einer der ganz wichtigen Filme über den Krieg, aber auch darüber hinaus ein ganz wichtiger europäischer Film, der Vergangenheitsbewältigung im besten Sinne des Wortes versucht. (13.5.)