Was bleibt von Hans-Christian Schmid. BRD, 2012. Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Ernst Stötzner, Sebastian Zimmler, Picco van Groote, Egon Merten, Birge Schade

   Was bleibt, wenn man die ewigen Lügen weglässt, das zudeckende Schweigen, das verlegene Lächeln, das gnädige Wegsehen, das hastige Überspielen? Die Schuldfrage vielleicht: Wer ist denn nun Schuld daran, dass die Familie trotz großbürgerlichen Lebensstils ohne Existenzsorgen im Innern längst zerbrochen ist, oder besser gesagt explodiert? Die Mutter, deren furchtbare Depressionen die Familie seit dreißig Jahren im Würgegriff hält? Oder der Vater, der sich nach jahrzehntelangem Ringen doch eine Freundin sucht und es erst nach anderthalb Jahren schafft, seiner Frau die Wahrheit zu sagen? Oder Sohn Nummer eins, der nebenan in Pappis Haus wohnt und mit Pappis Geld eine schlecht funktionierende Zahnarztpraxis über Wasser zu halten versucht, weswegen Pappi noch mehr Geld reinstecken muss? Oder auch Sohn Nummer zwei, der nach Berlin entfloh, dort als Autor schlecht und recht klarkommt, dafür seine Ehe an die Wand gefahren hat und nun darum bangt, dass sein Sohn eines Tages zu einem anderen Mann Papa sagen wird? Es ist bezeichnend, dass jeder der vier die Schuld einem anderen zuschieben, die Verantwortung von sich weisen möchte, mit dem unvermeidlichen Ergebnis, dass sich am Schluss die Familie tatsächlich aufgelöst hat: Die Mutter verschwindet eines Nachts spurlos und wird nicht mehr gefunden, Sohn Nummer eins ist mitsamt der Freundin nach Schweden entkommen, Sohn Nummer zwei wird mitsamt Sohn und (möglicherweise wieder versöhnter) Gattin zurück nach Berlin eilen und Paps kann endlich seine lang ersehnt Nahostreise antreten, die er sowieso ohne die Mama, dafür mit der neuen Freundin geplant hatte.

   Davor stehen zwei Ankündigungen, wegen derer man sich überhaupt nach längerem mal wieder zusammengefunden hat: Papa  verkündet, dass er seinen Verlag verkauft hat, um sich endlich seinen privaten Studien und Forschungen widmen zu können. Und Mama verkündet, dass sie bereits seit längerer Zeit ohne Medikamente lebt, und dass, wo sie doch endlich ganz gut eingestellt zu sein schien. Papa und Sohn Nummer eins reagieren mit gelinder Panik, weil sie nur zu gut wissen, dass Mama auf einem Pulverfass lebt, das ständig hochgehen kann. Sohn Nummer zwei reagiert ein wenig gelassener und ermutigt seine Mutter, weshalb er sich vor allem den Zorn seines Bruders zuzieht, der ihm vorwirft, weitab von aller Krise ein sorgloses Leben zu führen und gar nicht zu wissen, welche Belastung er und sein Vater tagtäglich zu ertragen haben. Der Konflikt zwischen den beiden schiebt die Geschichte zunächst voran, doch es geht parallel noch um mehr, es geht um die Situation der Mutter, die ständig wie ein rohes Ei behandelt und gar nicht richtig ernst genommen wird, und es geht um Sohn Nummer eins, dessen Praxis haufenweise Miese schreibt, der aber zur Verzweiflung seiner Freundin Ella außerstande ist, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Ellas Blick ist es auch, den wir Zuschauer immer wieder einnehmen, wie sie betrachten wir die vier von außen, durchaus nicht unbeteiligt oder gar unberührt, aber dennoch mit einem klareren Blick für die Verhältnisse. Was ganz und gar nicht heißt, dass wir selbst gegen die Macken und Fehler der Personen hier immun wären, im Gegenteil: Nur zu gut erkennen wir uns in der einen oder anderen Verhaltensweise wieder, vor allem im Glätten und Vertuschen unbequemer Wahrheiten, im Vermeiden von offenen Konflikten oder in der Unfähigkeit, einfach mal einen Schnitt zu machen und vermeintliche Verpflichtungen über Bord zu werfen.

   Das brillant geschriebene Drehbuch beginnt eher nüchtern und konzentriert mit dem Sammeln der wenigen Protagonisten, bringt die einzelnen Themen und Probleme in Stellung, entwickelt sich dann zu einem echten, spannenden Drama, mündet jedoch nicht in einer vielleicht zu erwartenden Eskalation, sondern fährt die Spannung einfach wieder runter, lässt die Mutter verschwinden, die Söhne entweichen und Papas ein paar sachliche Vorkehrungen treffen, und so wird hier nichts bereinigt oder endlich mal zur Sprache gebracht, alles wird weiterlaufen wie bisher, und auch Mutters Verschwinden scheint kein großes Thema mehr zu sein. Das konsequente Ende einer Familie, in der einfach nicht gesprochen wird. Dies ist wie gesagt auf nur wenige Personen und noch weniger Schauplätze beschränkt, verlangt entsprechend nach hochklassigen Zutaten, und die gibt es: Neben dem erwähnt hervorragenden Buch von Bernd Lange bestechen Schmids gewohnt dezente und doch extrem fokussierte Regie, die tolle Musik von The Notwist und natürlich die Darsteller, die ein eindrucksvolles Ensemble bilden, und anders als der doofe Spiegel bin ich nicht der Ansicht, dass Corinna Harfouchs Darstellung irgendwie herausragt und die anderen erdrückt. Das Zusammenspiel der Akteure wirkt perfekt ausbalanciert, jeder kann seiner Figur Profil und Tiefe geben, und anders als etwa bei Matthias Glasner wird die Harfouch hier auch deutlich gebändigt und fügt sich perfekt ins Gesamtbild ein. Dies ist hochkarätiges deutsches Kino, ein Psychofamiliendrama, wenn man so will, aber keines, das erdrückend oder schwerfällig wirkt, unter der Last der Probleme zusammenbricht, und letztlich auch uns Zuschauer zusammenbrechen lässt, sondern ein Film, der uns erlaubt, einen klaren Kopf zu behalten, was ich persönlich sehr schätze. Schmid gehört eindeutig zu den Regisseuren, bei denen ich mich auf jeden neuen Film freue – und bislang bin ich noch nie enttäuscht worden. (24.9.)