The Cut von Fatih Akin. BRD/Türkei, 2014. Tahar Rahim, Simon Abkarian, Hindi Zahra, Makram J. Khoury, Kevouk Malikyan, Bartu Kücükcaglayan, Lara Heller, Arsinée Khanjian, Trine Dyrholm, Moritz Bleibtreu
Die Geschichte des armenischen Schmieds Nazaret und seiner Familie, die das Unglück hat, im untergehenden Osmanischen Reich anno 1915 leben zu müssen und die deshalb wie Hunderttausende auch unter die Räder des Genozids kommen, der in diesen Jahren am armenischen Volk verübt wird. Nazaret wird erst als Zwangsarbeiter für die Türken geschunden, soll dann zusammen mit anderen abgeschlachtet werden, überlebt dank der Skrupel seines Henkers, verliert lediglich die Stimme, bleibt von dem Gedanken besessen, seine Zwillingstöchter Arsinée und Lucinée zu finden. Die Odyssee führt ihn nach Aleppo, von dort über die großen Meere nach Havanna, von dort weiter nach Florida, dann per Bahn rauf in den Norden nach Dakota, Minneapolis, schließlich in ein gottverlassenes Dorf nahebei. Dort findet er Lucinée, die ihm sagen muss, dass sie ihre Schwester ein Jahr zuvor verloren hat. Seit dem Massaker sind beinahe zehn Jahre vergangen.
Es kommt sehr darauf an, welche Erwartungen man an Fatih Akin und seinen Film stellt. Wer auf einen differenzierten, politisch und historisch ausgewogenen Exkurs hoffte, wird sicherlich enttäuscht sein, wer großes, emotionsgeladenes Kino im Sinn hatte, wird sich gut aufgehoben fühlen, denn Akin bietet vor allem dies – Epik, Wucht, große Bilder, große Gefühle. Natürlich auch eine Geschichte von der Bestie Mensch und dem, was mit den Armeniern einst geschah und was im Folgenden aus den Überlebenden wurde. Man kann die Geschichte vom Vater, der mit all seiner Kraft nach seinen Töchtern sucht, als ärgerlich und märchenhaft abtun, man kann durchaus auch zurecht argumentieren, dass Akin ebenso gut ein weniger „romantisches“ Schicksal hätte wählen können – hat er aber nicht, und mit dieser Entscheidung muss man irgendwie klarkommen. Und man muss auch sehen, was Nazaret alles verliert: Seine Frau, eine der Töchter, seine gesamte restliche Familie, mit der er in engem Verbund zusammen lebte, seine Heimat, seine Existenz, seine Stimme. So gesehen ist dies alles andere als einer Erfolgsgeschichte, aber es ist halt die Geschichte von einem, der anders als viele seiner Landsleute überlebte. In diesem Rahmen finde ich Akins Entscheidung völlig akzeptabel. Seine Entscheidung für das eher publikumskompatible „große“ Kino wäre nur dann zweifelhaft, wenn es auf eine Banalisierung oder Trivialisierung der Historie hinausgelaufen wäre – das ist meiner Ansicht nach ganz und gar nicht der Fall, denn selbst wenn man Akin meinetwegen zu recht hier und da Vereinfachung oder Verkürzung vorhalten mag, so kann von Verharmlosung in keiner Weise die Rede sein. Die barbarischen Gräueltaten der Türken kommen mit voller Wucht rüber, das grausame Martyrium von Männern, Frauen und Kindern wird mit drastischer Intensität vorgeführt, nur bleibt Akin eben nicht dort stehen, wendet sich in der zweiten Hälfte einer andere, einer privaten Geschichte zu, der Geschichte von dem, was danach kommt. Vertreibung, Flucht, Exil. Der Verlust der gesamten Habe und der Versuch, irgendwo im Fremden eine neue Existenz zu gründen. Die Armenier werden buchstäblich in alle Welt versprengt, manche bilden Enklaven, Kolonien, so wie die meisten Immigranten, um sich ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit zu bewahren. Den einen glückt dies ziemlich geschmeidig, andere tun sich schwer, wieder andere scheitern völlig. Nach dem luxuriösen Laissez-faire in Havanna trifft Nazaret in God’s Own Country auf eine weitaus feindseligere Welt. Knarren, Ku-Klux-Klan, jeder für sich, und wer das nicht schafft, kommt halt unter die Räder. Nach über zwei Stunden hat sich die Erzählung ein gutes Stück vom Beginn entfernt, aber man bleibt irgendwie dabei, ich jedenfalls, weil Akin kraftvoll, dicht, spannend erzählt, weil einem viele Szenen und Momente sicherlich für lange Zeit nicht mehr aus dem Sinn gehen werden und weil die Geschichte der besessenen, über alle Hindernisse und Räume hinweg bedingungslosen Suche schon ihre Faszination hat.
Ich weiß ja nicht, ob Akin irgendwo vollmundig verkündet hat, er habe hier das ultimative Opus über den Völkermord an den Armeniern geschaffen. Sollte dies der Fall sein, würde ich sofort denen zustimmen, die den Film für gescheitert erklären, denn dies ist ihm mit Sicherheit nicht gelungen. Für mich sieht „The Cut“ aber gar nicht so aus, als strebe er danach. Natürlich formuliert er eine klare humanistische Botschaft, natürlich klagt er die Unmenschlichkeit, die unbegreifliche Grausamkeit der Türken an, im Weiteren aber setzt er, ausgehend von diesem, Ereignis, andere, persönlichere Akzente, erzählt eben nur eine einzige Geschichte aus ganz vielen, und ich habe beim Zusehen auch nicht den Eindruck, als sollte dies die eine exemplarische Geschichte sein, die für alle anderen steht. Jeder Regisseur würde dieses Thema auf seine Art angehen, Atom Egoyan beispielsweise hat‘s in „Ararat“ auf seine Weise getan, ungleich sperriger, unzugänglicher, von mir aus auch anspruchsvoller, Akin hat sich für die offenere, sicherlich konventionellere Variante des großen epischen Dramas entschieden, und genau in diesem Rahmen hat er das sehr gut gemacht, wie ich finde. Es wäre jedenfalls Unsinn zu behaupten, er habe die Sache der Armenier verraten, ihr Schicksal verkitscht. (30.10.)