En chance til (Eine zweite Chance) von Susanne Bier. Dänemark/Schweden, 2014. Nikolaj Coster-Waldau, Maria Bonnevie, Ulrich Thomsen, Lykke Maj Andersen, Nikolaj Lie Kaas

   Regie Susanne Bier, Drehbuch Anders Thomas Jensen. Das hat‘s schon ein paar Male gegeben, und jedesmal war das Resultat außerordentlich, so auch diesmal. Man weiß mittlerweile, worauf man sich einzustellen hat: Hochgradig intensives menschliches Drama um Liebe und Tod, Schuld und Vergebung, nicht gerade leichter Stoff und ganz sicher weit entfernt vom gängigen Wohlfühl- und Konsenskino, das sich mittlerweile im Arthousebereich breitgemacht hat. Gut, dass es sie noch gibt, die ollen Skandinavier!

   Andreas und Anna verlieren ihren kleinen Sohn durch plötzlichen Kindstod. In seinem hilflosen Schmerz geht Andreas, der als Polizist arbeitet, in die Wohnung des total verwahrlosten Junkiepärchens Tristan und Sanne und nimmt deren Baby mit zu sich nach Haus. Es hilft nichts: Die psychisch ohnehin labile Anna begeht Selbstmord, und Andreas‘ Kollege Simon erahnt nach kurzer Zeit die Wahrheit. Andreas bringt Sanne ihren Sohn zurück. Noch schlimmer wird’s für ihn, als er erfährt, dass sein Sohn durch Schütteltrauma gestorben ist, also von Anna misshandelt wurde. Er verliert seinen Job, fängt ganz neu an. Ein paar Jahre später trifft er Sanne und ihren Sohn im Baumarkt, wo er jetzt arbeitet.

   Soviel Schicksal – unter dieser Hypothek würden die meisten anderen ächzend in die Hocken gehen, aber nicht die Dänen! Die sind in ihrem Element und darin unschlagbar, auch im Zeitalter nach dem „Dogma“ und dem Regiment der Handkamera. Ihr Geheimnis ist schwer zu ergründen, ich glaube, es liegt an ihrer grundsätzlichen Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit. Auch wenn alles manchmal ein bisserl arg heftig wird, wenn sehr viel zusammen kommt und manches auch etwa konstruiert erscheint, falsche Töne, auch in Form von übertriebenem Pathos, habe ich noch nie angetroffen in diesen dänischen Dramen. Sie nehmen die Geschichten und ihre Personen total ernst, ohne daraus gleich eine große Oper zu machen, sie gehen mit hundertprozentigem Engagement zur Sachen ohne gleich die ganz großen Gesten auspacken zu müssen. Die Filme wirken bei alledem niemals prätentiös, unnötig schwer. Susanne Bier kommt einhundert Minuten aus, ihr Film ist straff strukturiert, ganz klar erzählt, keine Längen, keine Nebensächlichkeiten, maximale Spannung und Intensität. Im Mittelpunkt Andreas, der etwas absolut Unsägliches tut, für sich aber gute Absichten reklamiert. Er will natürlich zuerst die eigene Familie retten, vor allem seine Frau, die den Tod ihres Kindes nicht verkraften würde, er will aber auch das andere Kind retten aus der Hölle eines Junkiehaushalts, wo er und Simon es schon einmal total eingekotet, unterernährt und verwahrlost auffinden. Die Mutter Sanne ist noch nicht mal das Problem, sie ist einfach nur überfordert und ständig auf Drogen, doch Tristan ist ein echter Dreckskerl, eine typisch krasse Figur von Anders Thomas Jensen, der die Extreme liebt, weil sie ihm gestatten, Fragen nach Schwarz und Weiß, Gut und Böse auf provozierende Weise zu variieren und zu polarisieren. Tristan ist ein Monster, Sanne ein nur halb lebenstüchtiger Junkie, dem Kind steht sehr wahrscheinlich ein übles, aussichtsloses, wohl auch kurzes Leben bevor, aber hat Andreas deshalb das Recht, den Eltern das Kind zu nehmen? Anfangs sind wir durchaus zwiegespalten im Urteil, fabrizieren uns wie er eine Rechtfertigung, weil uns sein Leid so nahe geht und wir ihm und Anna wünschen, dass sie einen Ausweg finden, und auch dem kleinen Sofus eine bessere Zukunft wünschen, möchten glauben, er handele durchaus nicht nur eigennützig, doch spätestens als klar wird, dass auch Anna unter der hellen, zarten Oberfläche dunkle Abgründe verbirgt, relativiert sich das Urteil langsam aber sicher. Andreas kämpft ebenso verbissen wie blind für seine heile kleine Welt, blendet die Folgen seines Handelns völlig aus, Anna kann ihm dorthin nicht folgen, kann die Selbsttäuschung nicht nachvollziehen, kann sich mit dem Ersatzkind nicht trösten, Sanne wiederum leidet furchtbar, zumal sie gesehen hat, dass das tote Kind in ihrem Badezimmer nicht ihr Sofus war, und die zuvor so klar erscheinende Gut-Böse-Dualität löst sich alsbald komplett auf. Der Schock der Gewissheit, dass Anna ihren Alexander durch ihre Misshandlung getötet hat, trifft uns genauso heftig wie Andreas, für den schlagartig seine ganze heile kleine Welt zerbricht. Wir sind dringend gehalten, nicht vorschnell Partei zu ergreifen, nicht zu voreilig mit Schubladen zu hantieren, sondern offen zu bleiben, und diese Offenheit zeichnet auch „Zweite Chance“ aus.

 

   Susanne Bier hat den Film sehr eindringlich gestaltet, optisch sehr schön und ausdrucksvoll, die Szenen maximal intim und intensiv, atmosphärisch und dramaturgisch gleichermaßen dicht, und wie immer beruht ein maßgeblicher Teil der Wirkung auf den grandiosen Darstellern, auf die die dänischen Filmemacher ja immer zurückgreifen können, und die auch die wildesten Konstruktionen noch so rüberbringen, dass sie eben nicht abstrus und überzogen erscheinen, sondern ganz und gar überzeugend. Ich würde sagen, dass mich einige der früheren Filme von Susanne Bier vielleicht noch etwas stärker  beeindruckt haben als dieser neue, wenn aber auch diesen hier vergleicht mit dem, was zurzeit sonst so auf dem Markt ist, fällt schon der Klassenunterschied auf, und deshalb kann und will ich überhaupt nicht meckern. Wie gesagt, gut, dass es die Filme aus dem Norden überhaupt noch gibt, auch wenn sie nach wie vor ziemlich rar sind und immer bleiben werden, aber sie garantieren immerhin ein Niveau, das sonst selten in dieser Konstanz erreicht wird, immer vorausgesetzt natürlich, man hat einen Sinn für schweres Zeug und will sich nicht bloß amüsieren. (19.5.)