Escobar: Paradise Lost von Andrea Di Stefano. Frankreich/Spanien/USA, 2014. Benicio del Toro, Josh Hutcherson, Claudia Traisac, Brady Corbet, Carlos Bardem, Ana Giradot, Micke Moreno, Aaron Zebede

   Das verlorene Paradies glaubt Dylan an den Stränden Kolumbiens gefunden zu haben. Und da er selbst nicht mehr surfen kann, will er wenigstens seinem Bruder Nick dabei zuschauen und lädt ihn ein, bei sich und seiner Familie zu leben und den langgehegten Traum vom Paradies endlich zu verwirklichen. Nick aber lernt ein Mädchen kennen, Maria. Dieses Mädchen ist die Nichte von Pablo Escobar, und als nick begreift, wer dieser Onkel Pablo ist und wofür er steht, ist er schon zu tief in die Familie verstrickt und findet keinen Ausweg mehr, auch wenn er in letzter Minute versucht, sich irgendwie aus den Zwängen der Abhängigkeit zu befreien und den ihm aufgetragenen Mord nicht auszuführen. Anfang der 90er Jahre geht Pablo Escobar unter viel medialem Getöse freiwillig ins Gefängnis, während er seine Mordbanden angewiesen hat, hinter sich aufzuräumen und die angehäuften Schätze zu verstecken. Davon sind auch Nick, Dylan und dessen Familie betroffen, und niemand von ihnen wird lebend davonkommen. Was bleibt, ist am Ende die Vision vom Paradies, von reinen Stränden unter Palmen und vom Bilderbuchmeer.

   Die Geschichte des tapferen, naiven Surferboys, der lange Zeit nicht versteht oder verdrängt, ich welch furchtbare Lage er sich selbst manövriert. Liebe macht blind, wissen wir, aber man muss schon total blind sein, um zu übersehen, welch ein Imperium Onkel Pablo um sich herum errichtet hat. Zumal Nick sehr früh ein ungutes Gefühl beschleicht: Die Gaunerbande, die ihn und Dylan in den Küstenwäldern aufmischt, wird kurz darauf erhängt und bei lebendigem Leib verbrannt gefunden, eine von jenen „Gefälligkeiten“, mit denen Onkel Pablo seine Leute an sich bindet und sie verpflichtet, bei Gelegenheit ähnliches für ihn zu tun. Maria antwortet ihm zudem auf seine Frage, womit denn Onkel Pablo so reich geworden sie, ganz unbefangen: Kokain. Abgesehen davon ist es irgendwie schwer vorstellbar, dass man Anfang der 90er nicht gewusst haben soll, wer Pablo Escobar war, denn der Mann befand sich auf dem Zenit seiner Macht, seines Reichtums war in den Medien, zumal auf dem amerikanischen Kontinent, allgegenwärtig. Diese Ungereimtheiten weisen schon auf die einzig bedeutende Schwäche dieses Films hin, nämlich seine Oberflächlichkeit und fehlende Sorgfalt bei der Zeichnung der Personen. Hier fehlt es eindeutig an Tiefe und Plausibilität, auch was die Beziehungen der Hauptfiguren zueinander angeht. Nick und Dylan bleiben mitsamt ihres Hintergrundes ebenso blass wie Nick und Maria. Dass Nick sich in das schöne Mädchen verguckt, kann man schon nachvollziehen, doch weiter kommt man nicht, und zumindest ich habe nie recht verstanden, wie Nick es fertig gebracht hat, die monströsen Verbrechen Onkel Pablos trotz seines früh empfundenen Unbehagens so lange von sich fern zu halten und erst dann wirklich zu reagieren, als er selbst eine Knarre in die Hand gedrückt bekommt. Ich habe jetzt natürlich auch kein historisch und soziologisch profundes Porträt des Medellin-Kartells erwartet, aber ein kleines bisschen mehr „Fleisch an den Knochen“ hätte dem Film für mein Gefühl sehr gut angestanden.

   Das stört schon, keine Frage, hindert die Story aber auch nicht daran, ziemlich spannend zu sein und im Verlauf seiner zwei Stunden immer spannender zu werden. Hier hat Regisseur Di Stefano schon eindrucksvolle Arbeit geleistet, hat nach anfänglichen Szenen à la „Der Pate“, in denen der unbedarfte kanadische Vorzeigeschwiegersohn Bekanntschaft macht mit Onkel Pablo, der zwischen väterlichem Wohltäter und eiskaltem Mörder changiert, ein zunehmend intensives, dichtes Flucht- und Jagdszenario entworfen, das auch ein gutes Gefühl für die Allmacht und die uneingeschränkte Brutalität der Herrschaft Escobars vermittelt. Behörden sind längst gekauft, Uniformträger sind Onkel Pablo jederzeit zu Willen, ein Menschenleben zählt weniger als das einer Kakerlake, und selbst wenn Onkel Pablo immer versichert, die Familie gehe ihm über alles, bekommt man doch den deutlichen Eindruck, dass ihm Macht und Reichtum noch ein wenig wichtiger sind. Benicio del Toro hat keine Schwierigkeiten, diese schöne Kinorolle mit seiner mächtigen, routinierten Präsenz auszufüllen (vom Onkel Chè scheint es optisch nur ein kleiner Schritt zu sein und doch historisch gesehen ein unendlich großer), und Josh Hutcherson steht in der ersten Filmhälfte auf ziemlich verlorenem Posten neben ihm, zumal er sowieso nicht der charismatischste aller Schauspieler ist und nicht viel mehr tun kann, als brav und einfältig dreinzuschauen. Im zweiten, dem physischen, kinetischen Teil, fühlt er sich deutlich wohler und kann endlich so etwas wie eine eigene Masse in die Waagschale werfen, was ihm auch dadurch erleichtert wird, dass Onkel Pablo mehr und mehr von der Bildfläche verschwindet und wir ganz bei Nick sind, der einen Teil von Pablos Schatz verstecken und den dazu benötigten Gehilfen, einen Dorfjungen, nach getaner Arbeit liquidieren soll, wobei er entdeckt, dass auch er selbst sofort von Pablos Leuten umgebracht werden soll. Erst im Zuge hochspannender Actionsequenzen entfaltet sich wenigstens ansatzweise der Charakter eines naiven Typen, der plötzlich, viel zu spät, erkennt, in welch furchtbare Situation er geraten ist und der nun verzweifelt versucht, irgendwie rauszukommen, auch aus der moralischen Klemme, denn natürlich ist er gar kein schlechter Kerl und ganz gewiss kein rücksichtsloser Mörder, so wie Onkel Pablo es von ihm erwartet. Die Erzählung nimmt hier mächtig Fahrt auf und bleibt bis zum Ende atemberaubend spannend, und es zeichnet den Film dann doch wieder aus, dass er uns nicht etwa irgendein Happy End aus dem Hut zaubert, sondern realistisch und klar genug ist, den einen Satz zu bestätigen, der früher einmal gesagt wird: Niemand entkommt Pablo Escobar. Auch unser kanadischer Surferboy entkommt ihm nicht, sondern verblutet in einer Kirche, und ob dies so in einem konventionellen Hollywoodfilm geschehen wäre, wage ich doch sehr zu bezweifeln.

 

   Also: Sehr stark in Szene gesetzte, eindrucksvolle Unterhaltung mit einer grundsätzlich auch sehr interessanten Story, die insgesamt nur an ihren Untiefen leidet und mit ein bisschen Mühe noch deutlich komplexer und interessanter hätte umgesetzt werden können. (14.7.)