La fille inconnue (Das unbekannte Mädchen) von Luc und Jean-Pierre Dardenne. Belgien/Frankreich, 2016. Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Louka Minnella, Jérémie Renier, Christelle Cornil, Olivier Gourmet, Pierre Sumkay, Nadège Ouedraogo, Ben Hamidou, Laurent Caron

   Das unbekannte Mädchen läutet eines Abends an der Praxis der jungen Ärztin Jenny Davin. Sie weist ihren Praktikanten Julien an, nicht mehr zu öffnen, da beide einen langen, anstrengenden Tag hatten und die Praxis ohnehin seit einer Stunde geschlossen ist. Tags darauf wird die Polizei vorstellig: Am Ufer der Maas ist ein Mädchen tot aufgefunden worden, und ob sie mal einen Blick auf die Bänder von Jennys Überwachungskamera werfen können. Es stellt sich heraus, dass die Tote genau jenes Mädchen ist, das Jenny am Abend zuvor nicht eingelassen hat. Sie macht sich heftige Vorwürfe, fühlt sich verantwortlich für ihren Tod, und da die Identität des Mädchens nicht feststellbar ist, beschließt sie, zumindest ihren Namen in Erfahrung zu bringen, damit ihr Grab nicht anonym bleiben muss. Als sie nun anfängt, herumzufragen und nachzuforschen, erntet sie aber nicht immer und überall wohlwollende Reaktionen, zumal sie sich auch noch dafür zu interessieren beginnt, wie das Mädchen gestorben ist und wer ihren Tod auf dem Gewissen hat. Eine Spur führt in dunklere Kreise aus dem Drogenmilieu, von wo aus ihr direkt eine unmissverständliche Warnung zukommt. Eine andere Spur führt zu einem ihrer Patienten, einem Schuljungen namens Bryan, der auffällige Symptome zeigt und der Jenny bald gesteht, dass er das tote Mädchen kannte. Zum Unmut der ermittelnden Polizeibeamten und gegen den ausdrücklichen Widerstand der Eltern Bryans fragt Jenny hartnäckig weiter, bis sie schließlich herausfinden kann, was geschehen ist und auch noch die Schwester des toten Mädchens kennenlernt. Und ihren Praktikanten, der sich gleich nach jenem Abend von ihr trennte, begleitet sie in seine neue Arbeitswelt. Und einen lukrativen Job, den sie eigentlich schon sicher hatte, schlägt sie auch aus, um weiter als praktische Hausärztin tätig bleiben zu können. Und für ihre Patienten ist sie weiterhin eine aufopferungsvolle, engagierte Ärztin.

   Die Dardennes sind mittlerweile für mich eine der wichtigen Konstanten des europäischen Kinos geworden, nicht nur, weil sie seit mehr als anderthalb Jahrzehnten auf diesem hohen Niveau unterwegs sind, sondern auch, weil sie sich thematisch konsequent nur innerhalb eines bestimmten Bereichs bewegen. Menschen, die innerhalb des Alltags in eine Ausnahmesituation geraten, die unter Druck geraten, die in existentielle Not geraten. Zugleich haben sie immer den Blick über die konkrete Geschichte hinaus auf die Gesellschaft drum herum gerichtet, auf unser Leben heute, vor allem unser Zusammenleben unter den gegebenen Umständen, vor allem den wirtschaftlichen. Auch „Das unbekannte Mädchen“ erzählt viel mehr als eine kleine Kriminalgeschichte. Er bietet das Porträt einer jungen Frau, die kompromisslos Verantwortung übernimmt. Für ihren Praktikanten Julien, für ihre Patienten, für das Gedenken an das unbekannte tote Mädchen, dem sie mit allen Mitteln einen Namen, eine Identität, einen Teil ihrer Würde geben möchte. Sie weiß, dass sie nicht schuld ist an ihrem Tod, sie weiß aber auch, dass das Mädchen wohl nicht gestorben wäre, wenn sie auf den Türöffner gedrückt und sie in ihre Praxis gelassen hätte. Und Jenny ist eine Frau, die nicht locker lässt, bis sie irgendetwas erreicht hat. Sie bringt den hoffnungslos verstockten und einsilbigen Julien tatsächlich dazu, sich doch noch zu öffnen, ihr etwas aus seinem Leben, seiner schweren Kindheit zu erzählen und ihr zu erklären, weshalb er unbedingt Arzt werden wollte. Sie bringt einen alten Mann dazu, ihr zu beichten, dass er das tote Mädchen zuvor als Prostituierte benutzt hatte. Sie bringt Bryans Vater schließlich dazu, ihr zu gestehen, dass er für den Tod des Mädchens verantwortlich ist, und sie bringt ihn sogar dazu, sich der Polizei zu stellen. Und danach geht ihr Leben als Ärztin einfach weiter.

   Großartig ist einmal mehr, wie tief sich die Dardennes in ihr Milieu und die Menschen eingefühlt haben, ohne ihnen aufdringlich zu Leibe zu rücken. Stilistisch sind sie sich treu geblieben, schmucklos, karg, ohne jegliche dramaturgische oder technische Mätzchen. Sie beobachten, begleiten, doch sie bleiben bei aller Aufmerksamkeit taktvoll auf Abstand, zwingen niemanden, sein oder ihr Innerstes zu offenbaren. Ihre Dramen sind keine psychologischen Dramen, sondern eher existentielle, gesellschaftliche. Es geht zwar immer um einzelne Menschen und ihre eigenen Geschichten, es geht darüber hinaus aber auch um ihr zusammenleben, darum, wie sie miteinander reden, umgehen. Davon kann man in diesem Film sehr viel sehen. Jennys Haltung ist die einer Ärztin, die ihre Berufung ernst nimmt, die Anteil nimmt, die aber auch klar ist, professionell. Sie verliert nicht den Kopf, als ein kleiner Junge in der Praxis krampft, im Unterschied zu Lucien, der wie betäubt daneben steht und nichts tun kann. Sie weist ihn danach mit deutlichen Worten zurecht, sie reagiert mit Flucht, eine Reaktion, die bei ihr kaum denkbar wäre. Auch kurz danach nicht, als sie sich die Schuld am Tod des Mädchens zuschreibt – davonlaufen ist keine Option. Die Art, wie die Dardennes gerade diese Haltung zeigen, hat mich sehr beeindruckt, wahrscheinlich weil ich mir wünsche, ich selbst hätte in jeder Situation diesen Schneid. Sie wollen Jenny nicht als makellose Heldin darstellen, im Gegenteil, sie macht Fehler, kommt zwischendurch auch mal ziemlich selbstgerecht rüber, doch sie stellt sich, ist entschlossen, übernimmt Verantwortung. Sie schreibt sich ebenfalls die Schuld an Luciens Flucht zu und gibt keine Ruhe, bis sie seine Beweggründe hört und annehmen kann. Damit bildet sie einen Gegenpol zur Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, die unsere Beziehungen zumeist prägen, und damit sind die Dardennes wieder bei einem ihrer wichtigsten Anliegen, der Idealvorstellung einer Gemeinschaft, einem wirklichen Miteinander in Abgrenzung zu dem, was sie selbst in ihren Filmen zeigen und was unweigerlich nicht nur zur Zerstörung des Individuums, sondern auch zur Zerstörung jeglicher sozialer Verflechtungen führt. Natürlich finden sie für diesen Typ im Grunde auch die eindrucksvolleren, prägnanteren Typen, vor allem ihre beiden Stammschauspieler Olivier Gourmet und Jérémie Renier bieten uns einmal mehr eine Auswahl an, wobei die Dardennes auch diesmal Zwischentöne und Differenzierungen eingebaut haben. Gourmet ist der Besitzer des Wohnmobils, in dem sein Vater gelegentlich mal eine Hure empfängt, der totale Egoist, der nicht bereit ist, auf Jennys eindringliche Appelle einzugehen und sie schließlich sogar körperlich bedroht, als sie seinen Vater im Heim aufsucht und von ihm endlich die Wahrheit erfährt. Renier ist Bryans Vater, der lange Zeit lügt und verdrängt, sogar die Gesundheit seines Sohnes gefährdet, sich letztlich aber doch besinnt und die Wahrheit sagt, womit er sich ein enormes Stück fortentwickelt hat von jenen Typen, die Renier in früheren Dardenne-Filmen verkörperte – man denke nur an seine grauenhaft unvergesslichen Auftritte in „Das Kind“ oder „Der Junge mit dem Fahrrad“. Insgesamt wirkt der Ton in diesem neuen Film ein wenig zuversichtlicher, was vor allem in der Figur der Jenny begründet ist und was mir persönlich im Moment gerade recht ist. Adèle Haenel spielt eine fantastische Hauptrolle, sie ist die ideale Besetzung für die Jenny mit ihrem reizvollen Kontrast zwischen ihrer Jugend und ihrem etwas herben, zupackenden, total unpathetischen Auftreten. Erneut haben die Dardennes eine fabelhafte Frauenrolle geschaffen und dafür eine fabelhafte Schauspielerin gefunden, wie im Falle von Marion Cotillard oder Cécile de France durchaus keine unbekannte mehr, die aber unter ihrer Regie ohne jeglichen Starappeal mit bestechender Natürlichkeit und Einfachheit agiert, so als habe sie bisher auch nur Independentfilme gemacht.

 

   Nach dem unentbehrlichen Ken nun also die unentbehrlichen Dardennes – ein großer Film ein Highlight des Jahres und, ja, wie schön, dass es sie gibt, die verlässlichen Konstanten… (20.12.)