Nichts passiert von Micha Lewinsky. Schweiz/BRD, 2015. Devid Striesow, Maren Eggert, Annina Walt, Lotte Becker, Max Hubacher, Beat Marti, Stéphane Maeder
Das ist so ein Film, den man(n) sich tunlichst nicht in weiblicher Begleitung ansehen sollte, jedenfalls nicht in kritisch gesonnener weiblicher Begleitung (obwohl – ist ja eigentlich dasselbe). Man wird nämlich die ganze Zeit über seeehr vielsagend und wissend von der Seite angesehen – Männer! Und man(n) schaut die ganze Zeit über streng geradeaus und versucht verbissen, sich selbst zu sortieren und eine vernünftige Haltung zu dem Film, und vor allem seinem Protagonisten zu kriegen: Ist das nun ein Riesenarschloch oder nur ein armer bemitleidenswerter Kerl oder einfach nur ein ganz normaler Mann mit der ganz normalen männlichen Art und Weise, mit den Dingen umzugehen – oder besser gesagt, nicht mit den Dingen umzugehen? Eine der Stärken dieses Films liegt darin, dass er uns ständig schwanken und schwenken lässt in unserem Urteil und unserer Befindlichkeit, dass er uns mal auf Distanz hält und uns dann wieder ganz eng reinzieht in ein Geschehen, das über weite Strecken unangenehm nahe an der Realität bleibt, um erst gegen Ende leider ein wenig zu sehr zu eskalieren.
Thomas will mit Ehefrau Martina und Tochter Jenny Skiurlaub in der Schweiz machen, endlich wieder eine gute Zeit gemeinsam haben, nachdem er privat wie beruflich einige heftige Krisen zu überwinden hatte, Ehe, Alkohol undsoweiter. Seiner Therapeutin verkündet er in der letzten Sitzung mit voller Überzeugung, er wolle einfach nur ein normaler, netter Mann sein und er habe sein Leben wieder im Griff. Erster Unmut kommt bei den Damen auf, weil Thomas sich bereit erklärt hatte, Sarah, die Tochter vom Chef mitzunehmen. Martina grantelt, weil sie vor allem ihr Buch fertig schreiben will, Jenny meckert, weil sie Sarah kaum kennt und eigentlich keinen Bock auf sie hat, Thomas jedoch nimmt die Verantwortung für das Mädchen stolz auf sich und wischt alle Einwände beiseite. Doch schon am allerersten Abend, als er den Mädchen gegen Martinas Willen gestattet, eine Party im Ort zu besuchen, gerät sein schönes Harmoniegebilde komplett ins Wanken: Sarah wird, so behauptet sie jedenfalls, ausgerechnet vom Sohn des Vermieters, mit dem Thomas seit langem befreundet ist, vergewaltigt, und nachdem Thomas die Gelegenheit verpasst, den Vorfall sofort der Polizei zu melden und eine offene Klärung herbeizuführen, gibt es kein Zurück mehr, und er verstrickt sich in ein fatales Geflecht aus Beschwichtigung, Verdrängung, Lüge und Vertuschung. Und das kann nicht gut gehen…
Dieser Malstrom, in den Thomas, zum großen Teil durch eigenes Zutun, zum Teil aber auch einfach durch unglückliche Umstände, tiefer und tiefer hineingezogen wird, erzeugt ein derart intensives Unwohlsein beim Betrachter, dass ich mich zwischendurch schon ein wenig im Sitz winden musste. Daran sehe ich, wie gekonnt der Film inszeniert, wie teuflisch geschickt seine Dramaturgie entwickelt worden ist. Thomas handelt durchaus in gutem Willen und gutem Glauben, will einfach mal alles richtig und es allen recht machen, doch irgendwann gerät er an den Punkt, an dem es eigentlich nicht mehr weitergehen kann, an dem endlich Farbe bekennen, Verantwortung übernehmen muss, sich zur Not auch stellen muss, doch je weiter er diesen Moment hinter sich lässt, desto unmöglicher wird es ihm, dorthin zurückzukehren. Das ist ebenso logisch wie unausweichlich, vor allem für uns Männer, die wir genau wissen, wie das ist, wenn man einmal den Moment verpasst hat und nun einem Mechanismus ausgesetzt wird, der sich scheinbar von ganz allein losgetreten hat. Das Nicht-Reden (wollen oder können) ist natürlich der Ausgangspunkt für alles Unglück. Thomas vertraut sich niemandem an, zunächst, weil er einfach kein unnötiges Aufsehen haben will, später dann, weil er für sein verantwortungsloses Verhalten nicht zur Rechenschaft gezogen werden will. Er ist ganz allein, ein zunehmend verzweifelter, schwitzender Einzelkämpfer, er rastlos im Auto hin- und herrast und stets versucht, den totalen Kollaps zu vermeiden. Kein hehrer einsamer Held allerdings, wie wir Männer uns vielleicht gern sehen wollen, sondern ein zugleich hilfloser und gefährlicher Verdränger und Schönredner, der, als ihm die Kontrolle über alles endgültig zu entgleiten droht, keinen anderen Ausweg weiß als eine wahnwitzige Harakiriaktion. Die kostet sehr wahrscheinlich zwei Menschen das Leben (seinen Vermieter nämlich und den Vergewaltigersohn) und ist der tragische Endpunkt einer offenbar unaufhaltsamen Ereigniskette. Und für meinen Geschmack gerade ein bisschen zu dick aufgetragen, denn alles was sich zuvor abspielte, reicht völlig aus, um uns innigst mitleiden und auch den Kopf schütteln zu lassen, da hätte es eines tödlichen Unfalls wirklich nicht mehr bedurft. Bis dahin verlässt die Story auch nie so recht das Terrain des Alltäglichen, des sehr Realistischen, sie ist sehr nahe dran an vielem, was jeder von uns selbst schon erlebt oder auch verbrochen hat, und genau daraus bezieht sie ja auch ihre enorme Dichte und Spannung. Als Thomas dann aber in seiner Verzweiflung den Sohn zu Boden schlägt und die beiden anschließend im Auto über die Planken drückt, da habe ich ein wenig zugemacht, konnte nicht mehr so recht mitgehen. Klar, im Dialog wird der Ausraster vorbereitet, wir hören, dass Thomas im Suff schon mal jemandem an die Karre gefahren ist, der ihn genervt hat, und als er dann entgegen seiner Versicherung, abstinent bleiben zu wollen, erneut zum Fläschchen greift, ahnen wir schon was. Ich hätte es aber nicht gebraucht, denn die gesamte Geschichte bis dorthin ist ein Meisterstück der fiesen Eskalation unter ganz normalen Leuten. Apropos Meisterstück – Devid Striesows Darstellung ist natürlich auch ein solches, eine brillante Solovorstellung, die alle Nebenfiguren ein wenig zur Seite rücken lässt, aber dennoch unaufdringlich bleibt, so wie es von jeher Striesows große Kunst ist. Er leitet unsere Emotionen perfekt, ist mal herzzerreißend niedergeschlagen, dann aber auch wieder zum Haareausraufen verstockt und töricht. Ganz nahe am Leben also, und Maren Eggert als verbitterte, aber nicht vollkommen kaltherzige Ehefrau flankiert ihn perfekt, stellt seiner eigentümlichen Weichheit eine gewisse artikulierte Schärfe zur Seite, die ihn wiederum umso stärker unter Druck setzt. Alles in allem also ein kunstvoll gestaltetes, großartig gespieltes Drama in kleiner Gruppe, das nur ganz zuletzt ein wenig ausbricht, und die letzte Frage bleibt, ob es unsere Begleiterinnen dazu veranlassen wird, endlich mal ein wenig mehr Verständnis für ihre geplagten, für immer in sich selbst gefangenen Jungs aufzubringen… (17.2.)