Radio Heimat von Matthias Kutschmann. BRD, 2016. David Hugo Schmitz, Maximilian Mundt, Jan Bülow, Hauke Petersen, Milena Tscharntke, Marie Bloching, Steffen Kampwirth, Sandra Borgmann, Peter Nottmeier, Anja Kruse, Uwe Lyko, Ralf Richter, Ingo Naujocks, Jochen Nickel

   Erwachsenwerden war noch nie leicht. Erwachsenwerden im Pütt auch nicht leichter als anderswo. Und Erwachsenwerden in den 80ern stand ganz klar unter erschwerenden Vorzeichen, die auf der Hand liegen, wenn man an Mode oder Musik dieses unglücksseligen Jahrzehnts denkt (weshalb auch die beiden besten Songs in diesem Film konsequenterweise aus den 70ern stammen, nämlich die von Marvin Gaye und James Brown, aber das nur nebenbei…).

   Unsere vier Helden, die sich diesmal am Abenteuer Erwachsenwerden versuchen, heißen Frank (wie Frank Goosen, der die literarische Vorlage verfasste), Mücke, Pommes und Spüli, decken das ganze Spektrum ab von Normalo über Rotzbube bis zu Popper kurz vor dem Coming-out, vier Kumpels aus Bochum, die nun erfahren müssen, dass die unschuldige und entspannte Zeit des Jungseins ein für allemal vorbei ist, denn draußen vor der Tür stehen plötzlich die Mädchen und warten darauf, gefälligst vernünftig erobert zu werden, und das bedeutet Hormonrausch, Stress und Großalarm auf allen Ebenen. Frank hat es ausgerechnet auf Carola abgesehen, die Klassenschönheit, die natürlich total unerreichbar für ihn ist, weswegen er immer neue Planspiele entwirft, um sich doch irgendwie an sie ranschmeißen zu können. Die drei anderen Jungs unterstützen ihn, gönnen ihm den möglichen Erfolg, den Spüli hat’s eh nicht auf Mädchen abgesehen, Pommes (so genannt nach seinen fettigen Haaren) rechnet sich sowieso keine Chancen aus, und Mücke lebt aus unerfindlichen Gründen in dem Wahn, er müsse sich nicht anstrengen, ihm würden die Damen von allein zufliegen. Die Jungs nehmen einiges auf sich, besuchen sogar eine Tanzschule und setzen sich dem typisch deutschen Partykeller-Horror aus (mal komplett mit Holzverkleidung und Fotos aus der Hitparade, mal praktisch abspritzbar weiß gekachelt und mit fest betonierter, atombombensicherer Theke) und versuchen es mit einer Partie Strip-Poker, auf der sich Mücke schließlich dermaßen blamiert, das Frank langsam innerlich auf Abstand geht zu dem albernen Treiben. Er schafft es dann doch, bis ins Innerste der Angebeteten vorzudringen, muss allerdings feststellen, dass ein schönes Mädchen nicht automatisch auch ein geistreiches Mädchen sein muss, und dass dieses Mädchen obendrein wie alle anderen auch keine Ahnung von Musik hat, sondern stattdessen Angelo Branduardi anhimmelt, was für jeden Jungen, der nur ein Fünkchen Stolz besitzt, ein unüberwindliches K.o.-Kriterium sein muss. Eine Klassenfahrt ans Meer bringt dann die Entscheidung. Frank besinnt sich darauf, dass die nette Nicole schon seit längerem versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen, und nun, da Carola sich selbst entzaubert hat, ist der Weg frei für Franks erste Liebe.

  Und dazwischen gibt’s Geschichten von Franks Eltern und wie sie sich kennenlernten, damals in den muffigen 60ern, als noch alle Männer zwischen Bochum und Schalke im Bergbau malochten und man seinen neugeborenen Sohn ganz selbstverständlich umgehend beim VFL als neues Mitglied anmeldete (es sei denn, die Schwiegermama aus Gelsenkirchen war schneller…). Ein gut gelaunter Frank erzählt von den Leuten aus dem Revier, Gerburg Jahnke aus Oberhausen schwärmt von einer stillgelegten Halde aus, die Else Strathmann ist mit von der Partie, andere „Originale“ wie Ingo Naujocks aus Bochum, Ralf Richter aus Essen, Uwe Lyko aus Duisburg oder Jochen Nickel aus Witten sowieso (zu erwähnen wären auch noch Peter Nottmeier aus Wanne-Eickel, Anja Kruse aus Essen oder Sandra Borgmann aus Mühlheim an der Ruhr). Herrlich. Der Pütt feiert sich selbst, und das geht voll in Ordnung, zumal wenn es auf solch liebevolle, temperamentvolle und angenehm selbstironische Weise geschieht. Leute wie Winkelmann sind ja auch Spezialisten dafür, und es ist ja auch einfach so, dass das Revier und seine Leute speziell, ganz einzigartig und besonders sind und dass diese Landschaft und ihre Städte auf unvergleichliche Weise ein Jahrhundert Industriegeschichte spiegeln. Eine faszinierende Gegend, einer Hommage wie dieser in jedem Fall würdig.

   „Radio Heimat“ hat vieles, was mir am Herzen liegt. Er erzählt von Mensch und Milieu, von Freundschaft, vom Großwerden, von Jungs auf der Suche nach ihrem Weg, ihrem Platz, und er enthält einfach unheimlich viele Details, mit denen auch ich aufgewachsen bin, die hier von der Ausstattung sehr treffend in Szene gesetzt wurden und die natürlich ein sehr wohliges Gefühl der Nostalgie ausgelöst haben. Nostalgie ist nicht immer das Beste, verstellt häufig den Blick auf die Wahrheit, aber sowas ist in diesem Falle kaum gefragt, dies will kein historisch profundes, sozio-politisches Dokument sein, sondern eine Liebeserklärung mit Witz und Herz, und genau das ist auch dabei rausgekommen. Wir sehen schon Mitte der 80er, dass der Umbruch in vollem Gange ist, kaum noch einer arbeitet in der Kohle, der sogenannte Strukturwandel ist aber andererseits auch noch nicht vollzogen, und so gibt’s Krise, Arbeitslosigkeit und jede Mengen Fragen an die Zukunft. Das wird hier nicht großartig vertieft, schwingt aber in vielen Szenen im Hintergrund mit und wird, das wissen wir auch so, die Jungs und alle Altersgenossen auf ihrem unsicheren Weg begleiten. Ansonsten bemühen sie sich, alles anders zu machen als die Alten, und je mehr sie sich bemühen, desto mehr ähneln sie ihnen, klar. Raue Erziehungsmethoden, jede Menge Alkohol und andere Freuden des Familienlebens führen hier aber keineswegs zu einem handfesten Generationskonflikt. Die Alten sind einfach schräg, ihre Erfahrungen und Tipps nicht unbedingt taugliche Leitlinien für unsere pubertierenden Abenteurer, die ungewollt dennoch viele ganz ähnliche Erfahrungen machen müssen: Es geht nicht ohne Tanzschule, und: Man muss die richtigen Songs haben. Und wenn dann ein Mädchen herkommt, und sei es noch so hübsch, das mit „Let’s get it on“ nix anzufangen weiß, dann ist das halt nicht das richtige, so musses sein!

 

   Eine turbulent inszenierte und fast durchgehend sehr witzige Nostalgie-Revuenummer ist dies geworden, und will vor allem gar nicht mehr sein. Keine Ambitionen auf Höheres, keine versuchte sozio-historische Abhandlung, eher ein herzhaftes Spiel mit Klischees, die uns hier kiloweise um die Ohren gehauen und am Schluss nochmal ganz explizit auf die Schippe genommen werden. Mich würd mal interessieren, ob sich die Leute aus dem Pütt heutzutage von diesem Film besonders angesprochen fühlen. Mir jedenfalls hat er sehr viel Spaß gemacht. (23.11.)