The glass castle (Schloss aus Glas) von Destin Daniel Cretton. USA, 2017. Brie Larson, Woody Harrelson, Naomi Watts, Ella Anderson, Sarah Snook, Sadie Sink, Josh Caras, Charlie Shotwell, Bridget Lundy-Paine, Shree Crooks, Max Greenfield
Eine Familiengeschichte, wie gemacht für Hollywood: Rex, der Vater, ein Kriegsveteran, traumatisiert, auch vom Missbrauch durch die Monstermama, psychisch derangiert, paranoid. Rose Mary, die Mutter, eine Möchtegernmalerin, eine Frau, die im weitesten Sinne ungeeignet für die täglichen Dinge des Lebens ist. Diese beiden haben vier Kinder, drei Töchter und einen Sohn, und diese bizarre Familie zieht pausenlos durch die Lande, immer wieder vertrieben von Behörden, von Rex‘ Ausrastern oder seinem Verfolgungswahn, lebt zum Teil in bitterster Armut in Abbruchhäusern und Trailern, strandet schließlich bei Rex‘ eigener Familie in Virginia, in hintersten Hinterwäldlerland, und als die Horroroma sich auch noch an ihrem eigenen Enkel vergehen will, beschließen die beiden ältesten Töchter, vor allem Jeannette, die Eltern zu verlassen, weil dies die einzige Chance auf eine Zukunft ist. Zuerst geht also Lori, Jeannette folgt ihr, und die beiden jüngsten, Brian und Maureen bleiben zunächst mit den Eltern zurück, bis auch sie soweit sind. Es ist Jeannette, die die Geschichte erzählt, auch ihre eigene: Sie macht einen Schulabschluss, landet in New York, macht irgendwie Karriere und datet einen Karrieretypen, visiert offenbar ein Leben an, das in allem das genaue Gegenteil ihres früheren Lebens ist. Dann sieht sie eines Abends ihre eigene Mutter im Müll herumwühlen und findet heraus, dass Rex und Rose Mary mittlerweile auch in der Stadt leben und zwar in einem abbruchreifen besetzten Haus in der Bronx. Obwohl sie das eigentlich nie wollte, nimmt sie wieder Kontakt auf, und das ganze Familiendrama geht in die nächste Runde, bis Jeannette und die anderen sich endlich richtig freigeschwommen und ein ganz eigenes Leben haben, und nach Rex‘ Tod kommen alle an Thanksgiving zusammen und erinnern sich in seliger Nostalgie an die merkwürdigen alten Zeiten.
Dieser arg harmoniewütige Schluss hat mich doch ziemlich befremdet, gebe ich zu, er wirkt nach all dem, was wir zuvor gesehen haben, entweder völlig absurd und unglaubwürdig oder auf typische Hollywoodart sehr gewollt positiv und versöhnlich. Zu allem Überfluss kommen im Abspann auch noch die Realpersonen ins Bild und zu Wort und erfreuen uns mit kleinen Reminiszenzen – aber was weiß ich schon, vielleicht hatte Jeannette Walls genau das im Sinn, als sie ihr Buch „The Glass Castle“ schrieb, nämlich eine Mischung aus Exorzismus, Befreiung, Läuterung und Vergebung. Das Buch kenne ich nicht, möglicherweise gibt’s da auch noch andere Töne, die der Film uns nicht zumuten will, aber irgendwie glaube ich das nicht so ganz. Immerhin hat Walls Millionen gescheffelt mit dem Buch, und ich bin sicher, das wäre nicht so gewesen, wenn sie nur eine bittere Abrechnung mit ihren Eltern niedergeschrieben hätte.
Es ist aber auch eine Stärke dieses Films, der uns ständig die zwei Seiten der Medaille vor Augen führt und uns keinen bequemen Ausweg aus dem Zwiespalt anbietet: Einerseits betreiben Rex und Mary Rose fortwährend schlimmsten Missbrauch an ihren Kindern, lassen sie wurzellos, ohne eine kontinuierliche Schulbildung, damit auch ohne Bindungen und dauerhafte Freunde leben, lassen sie in Hunger und Armut leben, lassen sie in ständiger Angst vor den Folgen von Rex‘ Sauferei leben, und da beide Erwachsene völlig außerstande sind, Verantwortung für sich und die Kinder zu übernehmen, bürden sie vor allem den ältesten Töchtern ständig diese Verantwortung auf, überfordern sie total und konfrontieren sie immer wieder mit Situationen, die Kinder weder begreifen noch handhaben können. Im Detail werden diese Situationen wieder und wieder erzählt: Rex lässt Jeannette fast ertrinken, als er ihr schwimmen beibringen will. Jedes bisschen Geld, das auf irgendeine Weise mal reingekommen ist, wird von Rex früher oder später versoffen. Gleichzeitig konfrontiert er seine Familie ständig mit seinen wüsten Visionen, träumt vom Schloss aus Glas, das er ihnen bauen will, fertigt akribisch Pläne an, vertieft sich fanatisch in technische Details, weiß alles über gewisse Themen, doch wird dieses Schloss natürlich nie Wirklichkeit. Seiner harten, grausamen Mutter ist er hilflos ausgeliefert, kann selbst seine eigenen Kinder nicht gegen deren Übergriffe schützen. Noch hilfloser und egozentrischer wirkt Rose Mary, die ohne den jederzeit dominanten Rex wohl kaum lebensfähig wäre. Sie malt hingebungsvoll süßliche Stillleben, während ihre Kinder hungern, während die kleine Jeannette sich am Herd verbrennt und so weiter, sie ist völlig unfähig, auf die Situation zu reagieren. Sie klagt ihren Mann zwar häufiger an, dass er durch sein Trinken und seine Psychosen immer alles kaputtmacht, doch sie ist nie im Stande, den Kindern zuliebe die Konsequenzen zu ziehen, zumal ihr eigenes Elternhaus durchaus intakt ist und sie, wie die Kinder erst nach vielen Jahren erfahren, einen ganzen Haufen Geld in Form des elterlichen Grundstücks geerbt hat, dieses Erbe aber nie antreten wollte, weil sie sich ganz Rex‘ Vorstellungen von einem „freien, unabhängigen“ Leben angeschlossen hatte. Und andererseits gibt es dennoch eine starke Bande, die diese Familie zusammenhält, durch alle Verletzungen, durch alles Elend hindurch. Und noch im Abspann heißt es, Dad hatte auch viele gute Seiten, er hat uns viel beigebracht. Jeannette selbst ist weit davon entfernt, den Stab zu brechen, sie arbeitet sich mit ihrem Buch nur an ihrer Familiengeschichte ab, vor allem natürlich an ihrem Vater, zu dem sie trotz allem ein sehr enges Verhältnis hat, ganz anders als zur Mutter, die uns irgendwie fremd bleibt und deren Mitverantwortung irgendwie nie ein Thema wird – komischerweise, wie ich finde. An dieser Stelle fehlt mir schon etwas, denn die Zwiespältigkeit, die das Verhältnis der Kinder zum Vater kennzeichnet, muss ja eigentlich der Mutter gegenüber auch bestehen, doch wir nehmen sie zumeist nur am Rande wahr als ein mehr oder weniger willenloses Objekt, das entweder die Sprüche ihres Gatten reproduziert oder der Not der Kinder mit Verständnislosigkeit oder Gleichgültigkeit begegnet. Wie es nach alldem dann zu diesem versöhnlichen Ausklang kommen kann, war mir emotional nicht erschließbar. Natürlich gab‘s den einen oder anderen Moment, der so etwas wie eine Familienchemie erklärt, in dem auch so etwas wie Zuneigung oder Liebe des Vaters zu den Kindern zum Vorschein kommt (bei Mary Rose eher weniger), oder in dem seine krause Philosophie für einen Moment Sinn ergibt. Und letztlich ist dann da diese Bindung der Kinder zu ihren Eltern, die etwas Bedingungsloses hat ungeachtet aller Umstände und Krisen. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich es persönlich schwer fand, den emotionalen Kern der Geschichte im Hinblick auf den gutmütigen Abschluss zu begreifen.
Hinzu kommt, dass die gut zwei Stunden Filmdauer mir ein wenig zu lang vorkamen, dass es für meinen Geschmack ein paar Hin- und Rückblenden zuviel gab, vor allem im Zusammenhang mit Jeannettes Verlobung und dem Aufeinanderprallen zweier Welten, nämlich Rex‘ und seines potentiellen Schwiegersohns. Alles in allem war ich also nicht hundertprozentig zufrieden, obwohl es zwischendurch schon viele sehr eindrucksvolle Momente gibt, vor allem viele beklemmende Momente, die mich fragen lassen, welche Lebensentwürfe in diesem Land das drüben eigentlich möglich sind, ohne dass irgendjemand einschreitet – aber das meinen die wohl, wenn sie vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten faseln, oder? Rex ist eine etwas psychopathische Version von Viggo Mortensens Familienvater in „Captain Fantastic“, und Woody Harrelson gelingt es bravourös, genau den schmalen Grat zwischen fiebrigem Idealismus und schwerstem Trauma zu beschreiben. Überhaupt sind die Schauspieler für mich die größte Stärke hier, allesamt herausragend und vom Regisseur auch herausragend eingesetzt. Besonders die Rollen der Kinder in jungem Alter sind gar nicht leicht, und man sieht das Fingerspitzengefühl, das Cretton an den Tag legt, durchweg.
Immerhin ein Film, er beschäftigt, der anregt zur Auseinandersetzung, der mich vielleicht auch dazu motiviert, das Buch mal in die Hand zu nehmen und zu vergleichen. Und damit hat er auf jeden Fall viel mehr geschafft als die meisten anderen Hollywooderzeugnisse in letzter Zeit. (12.10.)