Capharnaüm (Capernaum – Stadt der Hoffnung) von Nadine Labaki. Libanon, 2018. Zain al-Rafeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Treasure Bankole, Kawtar al Haddad, Fadi Kamel Youssef, Nour el Husseini, Alaa Chouchniye, Cedra Izam, Nadine Labaki
Dies ist einer jener Filme, die ich eigentlich gar nicht sehen will, die aber dennoch sehen muss, an denen ich beim besten Willen nicht vorbeikomme, und obwohl dies zwei sehr schmerzhafte Kinostunden sind, sind es dennoch auch zwei absolut essentielle, vor allem für diejenigen, die gelegentlich den Glauben an die Kraft des Kinos verlieren möchten. Die bekommen hier nämlich eine Lektion allererster Güte, und immerhin muss man auch sagen, dass es viele Filme von diesem Kaliber ohnehin nicht gibt, also kann man sich das hin und wieder durchaus mal antun und sich dann wieder rasch in die Komfortzone zurückziehen…
Aus selbiger reißt uns Nadine Labaki allerdings für diese zwei Stunden komplett heraus, sie tut dies so entschlossen und konsequent, dass wir am Ende völlig schutzlos und nackt dastehen mit unserem beschissenen europäischen Gewissen, denn natürlich geht’s für uns Europäer beim Zusehen auch darum – ob Labaki daran überhaupt einen Gedanken verschwendet hat, weiß ich beim besten Willen nicht, es spielt auch keine Rolle. Dieser Film wurde auf Arabisch in Beirut gedreht, fast ausschließlich mit Laien und Filmneulingen (die so wahnsinnig präsent ist, dass ich mich ständig gefragt habe, wie Labaki mit denen zusammengearbeitet haben mag), wie man lesen kann, hat Labaki einen zwölfstündigen Rohschnitt erstellt, den ich wirklich gern mal sehen würde, einfach nur um zu erleben, was sie noch alles erzählt, was ihre Figuren noch alles erleben. Ihr ist es gelungen, mich so eng an sie zu binden, obwohl ihre Welt von meiner denkbar weit entfernt ist. Das ist dann wohl großes Kino.
Es beginnt mit einem Paukenschlag: Ein kleiner Junge, ungefähr zwölf, so genau weiß das niemand, tritt in Handschellen vor Gericht. Zain sitzt im Gefängnis, weil er einen Mann niedergestochen hat, nun aber tritt er selbst als Kläger auf, er klagt nämlich seine Eltern an, ihn in die Welt gesetzt zu haben, obwohl sie sich nicht um ihn kümmern können. Die Eltern Souad und Selim werden nun mit seiner Geschichte konfrontiert, zu der auch eine fremde farbige Frau aus Äthiopien noch einen Teil beizutragen hat. Die Familie lebt in erbärmlichsten Verhältnissen in einem Slum in Beirut in einer Abrisshütte, ungefähr acht Kinder (die genaue Anzahl kriegt man nie ganz mit) und Jahr für Jahr kommt eins dazu, die Eltern mit allem komplett überfordert, sie tun wirklich nicht mehr, als immer noch ein neues Kind zu zeugen. Sie wohnen in der Hütte des Mannes Assadd, von dessen Wohlwollen sie abhängig sind, für den Zain arbeitet, statt zur Schule zu gehen, und als Zains kleine Lieblingsschwester Sahar anfängt zu bluten, weiß der Junge, der schon viel mehr Lebenserfahrung hat, als er haben sollte, was das für sie bedeutet. Und so kommt es auch: Die Eltern verheiraten sie sofort an Assadd, um sich so weiterhin ihr Wohnrecht zu erkaufen, und Zain kämpft verzweifelt und vergeblich um seine Schwester. Später wird er erfahren, dass Sahar mit elf schwanger wurde und den Komplikationen zum Opfer fiel, er wird ein Messer nehmen und Assadd niederstechen (nicht töten wohlgemerkt, denn das Schwein kann später noch vor Gericht aussagen, dass viele Mädchen in dem Alter schon Kinder haben) und dafür ins Gefängnis gehen. Jetzt erstmal verlässt er seine Familie rasend vor Wut, lässt sich durch die Slums treiben und trifft die junge Äthiopierin Rahil, die zusammen mit ihrem kleinen Sohn Yonas illegal in Beirut in einer anderen ebenso erbärmlichen Hütte haust und sich mit allen möglichen Jobs über Wasser hält und nun dringend einen neuen Pass benötigt, weil sie sonst ausgewiesen werden könnte. Auch sie hat sich in eine unheilvolle Abhängigkeit begeben müssen. Der Mann heißt Aspro, hat einen Stand auf dem Sonntagsmarkt und will unbedingt den kleinen Yonas haben, um ihn gewinnbringend einer reichen Familie zu verkaufen, im Austausch für einen neuen Pass für Rahil. So wie Zain um seien Schwester kämpfte, kämpft nun Sahil um ihren Sohn und versucht irgendwie, das Geld auf andere Weise zusammen zu bekommen. Sie nimmt Zain bei sich auf, und er kümmert sich um den kleinen Yonas, bis sie eines Tages aufgegriffen und zusammen mit anderen Illegalen festgesetzt wird. Nun muss Zain allein Verantwortung für das Baby übernehmen, was er auch mit allen Mitteln versucht, dennoch endet er am Schluss bei Aspro und muss ihm Yonas übergeben, weil er für sie beide nicht sorgen kann. Mit Hilfe einer engagierten Menschenrechtsorganisation gelingt es Sahil aber doch noch, ihren Sohn wieder zu bekommen, während der Ausgang der Gerichtsverhandlung, in dem auch Sahil aussagt, offen bleibt. Immerhin aber hat Zain hier zum ersten Mal die Möglichkeit, über sich und sein Leben zu erzählen.
Vor ziemlich genau dreißig Jahren sah ich im Kino „Salaam Bombay“ von Mira Nair, in dem es auch um das Überleben von Slumkindern unter fürchterlichsten Lebensbedingungen geht. Damals hieß die Stadt Mumbai, diesmal heißt sie Beirut, doch die Bilder und die Diagnosen sind im Grunde die gleichen – Elend, Armut, völlige Aussichtslosigkeit. Da muss man als Filmemacher schon einen ganz besonderen Spirit zeigen, um nicht mitsamt dem Film, den Personen darin und den Zuschauern in einem Abgrund aus Depression zu versinken. Sowohl Nair als als Nadine Labaki haben diesen Spirit, haben ihn auch in ihren anderen Filmen immer wieder bewiesen, und damit bewahren sie ihren Film vor bloßem Nihilismus, überführen ihn auf ein anderes Niveau. Es geht eher darum, die Menschlichkeit nicht zu verlieren in einer Welt, in der von Menschlichkeit ansonsten nicht sehr viel zu spüren ist. Der deutsche Titel ist mal wieder total daneben, denn Beirut ist hier gerade nicht die Stadt der Hoffnung, es sind nur wenige einzelne Menschen, an die sich Hoffnung knüpfen ließe. Zain steht in der Mitte zwischen beidem, er hat gelernt, was nötig ist, um tagtäglich zu überleben, und das stört ihn schon lang nicht mehr, er tut hier aber auch Dinge, die er nicht tun will, die er in seiner Situation aber tun muss, einfach weil es keinen anderen Weg gibt. Wenn er Yonas schließlich doch zu Aspro bringt, dann nicht, um Profit daraus zu schlagen (wenngleich auch er sich eine Zukunft außerhalb des Libanon erträumt), sondern in erster Linie, weil er genau weiß, dass er den Kleinen allein nicht durchbringen könnte, während Aspro auf Seiten der Vielen steht, die aus dem Elend rücksichtslos Gewinn schlagen. Die Schleuser, die Profiteure, das sind diejenigen, die auf der Anklagebank sitzen müssten, natürlich nicht Zains Eltern, die nicht mal ihr eigenes Leben meistern könnten, die genauso Opfer sind, die sich aber dennoch fragen lassen müssen, warum sie ein Kind nach dem anderen machen in dem Wissen, es in eine denkbar miese Welt zu setzen.
Labaki hütet sich vor moralischen Urteilen, und das zeichnet ihren Film zusätzlich aus. In einer denkbar lebensfeindlichen Umgebung hat sich jeder so eingerichtet, dass er oder sie überleben kann und diesem Instinkt alle anderen Werte untergeordnet. Das ist in erster Linie das bittere Fazit eines Films wie „Capernaum“, dass es eben diese Welt gibt, in der der größte Teil Menschen gezwungen wird, die Menschlichkeit zu begraben, während ein kleiner Teil diese Wahl aus freien Stücken und im Interesse des Geschäfts trifft.
Ein wuchtiger, eindrucksvoller, erschütternder Film, an dem man nicht vorbeikommt, wenn man etwas über unsere Welt hier und heute erfahren möchte. Hat mit uns in Europa natürlich gar nichts zu tun… (25.1.)