Illusions perdues (Verlorene Illusionen) von Xavier Giannoli. Frankreich, 2021. Benjamin Voisin, Cécile de France, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Vincent Lacoste, Louis-Do de Lencquesaing, Jeanne Balibar, Gerard Depardieu, Jean-François Stévenin
Hochmut kommt vor dem Fall, oder: Die Geschichte des jungen Dichters Lucien aus Angoulême in der Charente, der im Paris der Restauration im frühen 19. Jahrhundert mit dem Familiennamen seiner adeligen Mama ganz groß herauskommen möchte, der tatsächlich bald ein neuer Stern unter den Journalisten und Literaten der Stadt wird, dann aber zu viel feiert, zu wild mit dem Geld um sich wirft und seinen Ruhm allzu lautstark genießt, sodass sich die sogenannte Gesellschaft schlussendlich genötigt sieht, dem frechen Kerl aus der Provinz eine Lektion zu erteilen, und die fällt entsprechend drastisch aus. Und so kehrt unser junger Schwärmer desillusioniert und gedemütigt zurück nach Hause, in vieler Hinsicht ärmer und zugleich auch reicher.
Eine Geschichte aus der unermesslichen Comédie Humaine Balzacs, kongenial auf die Leinwand gebracht als zweieinhalbstündiges Epos zwischen klassischem Kostümdrama und absolut aktuellen, zeitlosen thematischen Motiven. Eitelkeit, Gier, Korruptheit, Rücksichtslosigkeit und Standesdünkel zeichnen jene Gesellschaft aus, die die vorübergehende Rückkehr zur Monarchie nach dem Umsturz durch die Revolution 1789 prägt. Was sich hier abspielt, lässt sich mehr oder weniger unmittelbar auch noch auf heutige Verhältnisse übertragen. Ein Kulturbetrieb, in dem es darum geht, die richtigen Leute zu kennen und zu schmieren und in dem allmächtige Claqueure über Triumph und Untergang entscheiden können, je nachdem, wer das meiste Geld springen lässt. Ein Pressebetrieb, in dem es ebenfalls darum geht, die richtigen Leute zu schmieren und in dem eine saftige Story immer der Wahrheit vorzuziehen ist, sofern sie sich nur gut verkauft. Und dann schließlich die Salons und Ballsäle der Haute Volée, ein wahres Haifischbecken randvoll mit Missgunst, Intrigen, Machtspielchen und Klassenbewusstsein. All dies ahnt unser unschuldiger junger Lucien nicht, als er voller Hoffnung und Tatendrang in diese Szenerie platzt, sich natürlich anfangs häufiger eine blutige Nase holt, bis er langsam aber sicher lernt, nach den Regeln zu spielen, sich anzupassen. Eine klassische, bissige Gesellschaftssatire mit einem bisweilen recht ironischen auktorialen Erzähler aus dem Off, vermischt mit Elementen des Melodramas, denn die Liebe spielt auch eine Rolle, und unser Lucien ist zwar zum Teil ein übler kleiner Emporkömmling, andererseits aber durchaus auch ein aufrecht Liebender, der zu seiner großen Liebe, einer Boulevardschauspielerin, beharrlich steht, auch wenn die gesamte Umwelt über die unstandesgemäße Beziehung die Nase rümpft. Er ist halt mit all den Erfahrungen, Exzessen, Erfolgen überfordert, verliert jeglichen Halt und seinen Wertekompass und muss dafür bitter bezahlen. Die spürbare Distanz des Erzählers zu seinem Protagonisten sorgt dafür, dass ich das Ende nicht als tragisch empfinden konnte, sondern eher als zwingende Konsequenz seiner Entwicklung, die früh schon ungute Züge annimmt und schließlich in einer letzten abstrusen Kehrtwendung gipfelt, als er sich zunächst an die Monarchisten verkaufen will, nur um den Namen seiner Mutter annehmen zu können, dann aber einwilligt, angeblich anonym wüste Schmähschriften gegen seine neuen „Freunde“ zu publizieren – eine Falle, in die er allzu naiv hineintappt, weil er dringend nötiges Geld wittert. Der darauf folgende gesellschaftliche Suizid ist folgerichtig und irgendwie auch verdient, obwohl man nie aus dem Blick verliert, dass hier ein junger Mann Opfer eines Spiels wird, das er mitspielen will, dessen Regeln er aber eben nicht bis in die letzten Abgründe erfasst.
Ein durchweg brillant inszenierter und gespielter Film, der schönstes französisches Erzählkino verknüpft mit einer scharfen und auch heute noch zwingenden Analyse gesellschaftlicher und menschlicher Strukturen. Die Inszenierung ist überaus vital, aber verzichtet auf jegliche billige Modernismen, die heutige Kostümstücke häufig „auszeichnen“, die Dramaturgie vermag auch über die gesamte Länge des Films bestens zu unterhalten, und das umfangreiche Ensemble macht das Zuschauen zu einem zusätzlichen Vergnügen. Dieser Film könnte sehr gern als Inspiration für weitere Balzac-Verfilmungen geben, und bei dem extrem umfangreichen Werk wäre da noch einiges zu erwarten… (9.1.)