Anatomie d’une chute (Anatomie eines Falls) von Justine Triet. Frankreich, 2023. Sandra Hüller, Milo Machado Graner, Swann Arlaud, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth, Anne Rotger, Camille Rutherford

   Hat Sandra ihren Ehemann Samuel getötet oder ist er in Selbstmordabsicht aus dem Fenster hoch oben unter dem Dach gesprungen. Unklare Indizien und ein nicht einwandfrei einzuschätzender Todesfall führen dazu, dass nach einem Jahr Sandra schließlich der Prozess gemacht wird. Kernfrage ist: Mord aus impulsiver Wut einer Frau, die ihren Mann verachtet oder Selbstmord aus Erschöpfung eines Schriftstellers in einer Lebens- und Schaffenskrise. Je mehr Details aus Sandras und Samuels Eheleben bekannt werden, desto größer werden auch unsere Zweifel an Sandras Unschuld. Ihrem elfjährigen Sohn Daniel scheint es ähnlich zu gehen, auch er ist zunehmend verwirrt, revidiert seine Aussagen ständig und besteht darauf, unbedingt dem Prozess beiwohnen zu wollen, obwohl er sehr viel Böses und Verstörendes über seine Eltern hört, vor allem in Form einer Handytonaufnahme seines Vaters, der heimlich Alltagsszenen mitschnitt, um diese für einen neuen Roman zu verwenden. Die lange, zunehmend erbitterte Auseinandersetzung der Eheleute lässt in einen tiefen Abgrund blicken, der wiederum beide Möglichkeiten – Mord und Selbstmord – denkbar macht. Daniel verliert mehr und mehr den Boden unter den Füßen, erst ein makabrer Versuch mit seinem Blindenhund scheint ihm wieder Gewissheit zu geben, und so sagt er vor Gericht für seine Mutter aus. Sandra wird am Ende freigesprochen und kehrt zu Daniel zurück nach Hause.

   Natürlich bin ich am Ende immer noch nicht sicher, ob Sandra tatsächlich unschuldig ist. Das soll auch so sein, der Film hält diese Frage vollkommen in der Schwebe und unternimmt nichts, um uns in die eine oder andere Richtung zu manövrieren. Vieles scheint möglich: Der Staatsanwalt ist ein fieser Mistkerl, dessen Provokationen und Polemik uns empören. Doch gräbt er viele Fakten aus, die mich nachdenklich machen, zumal Sandra andererseits auch nicht gerade das ideale unschuldige Mütterchen vom Lande ist, sondern eine selbstsichere, spröde Frau, auch noch bisexuell und ihrem Manne nicht immer treu. Wir sehen sie abwechselnd fast emotionslos, dann wieder verzweifelt heulend wie ein Schlosshund, doch spüre ich als Zuschauer deutlich, dass sie mir niemals alles offenbaren wird. In dem bewussten Streit mit Samuel zeigt sie, dass sie auch ganz anders kann, als nüchtern und überlegen zu argumentieren, und wie Sandra Hüller das spielt, ist wahrlich furchteinflößend, wie überhaupt ihre Darstellung ziemlich furios ist und maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Film seine Spannung auch über die beträchtliche Länge von zweieinhalb Stunden niemals verliert. Der andere wichtige Faktor ist die Regie, der sehr detailreiche, genaue Blick, gleichzeitig aber auch der ruhige Erzählgestus, der ohne künstliche Aufregung und Spektakel auskommt, sondern sich völlig auf die Zwischenmenschlichkeit konzentriert, auf Sandra zusammen mit Daniel oder mit ihrem Anwalt oder eben auf den Prozess, der wie so viele andere Prozesse vor ihm eine hübsche Theaterbühne für ein schlagzeilenträchtiges Ehedrama bietet und in den Medien denn auch entsprechend ausgeschlachtet wird. Justine Triet nutzt natürlich die Möglichkeiten des Prozessthrillers, um unsere Meinungen und Emotionen auf die Probe zu stellen, doch sie tut eben noch viel mehr, sie beschreibt ein komplexes Beziehungsgeflecht, in dem es keine klar umrissenen Grenzen und Schuldzuweisungen und Täter-Opfer-Schemata geben kann, und das gilt sowohl für Samuel als auch für Sandra als auch für Daniel. Die präzise, mit sparsamen Mitteln operierende Inszenierung hält eine tolle Balance zwischen Nähe und Distanz, jubelt uns immer wieder sehr geschickt neue Informationen unter und lässt damit die Geschichte im Ganzen noch undurchsichtiger erscheinen.

 

   Das ist ein wirklich hochklassiges, glänzend inszeniertes und gespieltes Psychodrama vor winterlich-alpiner Kulisse und vor allem auch ein vorzügliches Beispiel dafür, dass ein Film Spannung mit ganz anderen als den gewöhnlichen Mitteln erzeugen und diese dann auch noch über die ganze lange Strecke halten kann. Chapeau! ˜˜˜˜» (7.11.)