All of us strangers (#) von Andrew Haigh. England/USA, 2023. Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy, Jamie Bell
Eine gleichzeitig eigenartige und auch einzigartige, magisch intensive Meditation über die Dinge des Lebens: Liebe, Verlust, Trauer, Sehnsucht, Hoffnung, Einsamkeit, der große schwere Knoten im Herzen, der versäumte Moment, die Dinge, die man nicht festhalten, nicht mehr nachholen kann. Und warum Homosexuelle auch in unserer ach so freien schönen neuen Welt immer noch nicht frei sein können. Eine Art Traumspiel, eine vorüberschwebende Vision, mal warm und zärtlich, mal dunkel und verloren. Am Ende ein Stern am Himmel, doch es scheint ein Stern aus einer anderen, jenseitigen Welt zu sein. So wie die Story insgesamt: Ein Mann lebt scheinbar allein in einem riesigen Hochhaus in London. Doch es gibt ein paar Etagen unter ihm noch einen Bewohner, und der klingelt eines Tages bei ihm an der Tür. Eine Liebesbeziehung beginnt, doch zugleich ist Adam auf Spurensucher: Als Zwölfjähriger hat er beide Eltern bei einem Autounfall verloren, und als er nun rausfährt zu ihrem damaligen Wohnhaus, trifft er die beiden plötzlich wieder, so wie sie damals aussahen. Man ist verblüfft und zugleich glücklich über dieses Zusammentreffen, und Adam versucht, die Nähe zu den beiden wiederzufinden, erzählt ihnen, dass er schwul ist und erlebt ihre Reaktionen darauf. Eines Tages machen sie ihm klar, dass es so nicht weitergehen kann und sie sich wieder trennen müssen. Und auch Harry verliert er: Er findet ihn tot in seiner Wohnung. Doch am Ende erscheint ihm Harry wieder lebend, und die beiden kuscheln sich aneinander, geben sich Halt. Dazu erklingt „The power of love“ von Frankie Goes to Hollywood…
Ein Film mit einer ganz besonderen Ausstrahlung, ein weicher Strom, der mich einfach mitzieht und mich konsequent davon abhält, über sowas Profanes wie Realitätsbezug oder Aussage nachzudenken. Spielt alles keine Rolle, hier geht’s darum, was uns bewegt, was uns verfolgt und beschwert, was uns treibt und prägt, was uns Kraft gibt und was uns Angst macht. Adam kann den Verlust seiner Eltern auch nach dreißig Jahren nicht überwinden, das elementare, alles überlagernde Gefühl der Einsamkeit, das später verstärkt wird, wenn er sich als Schwuler outet in einer Zeit, die noch weniger offen und tolerant damit umgegangen ist. Harry ist deutlich jünger, hat in dieser Beziehung andere Erfahrungen gemacht, aber nicht unbedingt viel bessere, nur seine Eltern haben sich offenbar weniger reserviert verhalten als Adams Eltern, die die Nachricht sichtlich erst noch verdauen müssen. Dennoch ist auch Harry von Angst und Einsamkeit geprägt, deren Gipfel sein tragischer, niederschmetternder Tod ist. Neben dem hymnischen Ende gibt es aber zwischendurch auch viele Momente der Nähe und Geborgenheit, nicht nur zwischen Adam und Harry, sondern auch zwischen Eltern und Sohn, und es ist besonders Andrew Scotts eindrucksvoller Darstellung zu verdanken, dass die besonders reizvolle Doppeldeutigkeit dieser Szenen so stark zum Ausdruck kommt: Einerseits möchte Adam einfach nur mal wieder Kind sein und die vielen verlorenen Jahre nachholen, andererseits möchte er seinen Eltern auf Augenhöhe als Erwachsener begegnen und sich ihnen erklären. Was er verdrängen will, sehen sie letztlich mit klarerem Blick: Wenn er sich nicht von ihnen löst, wird er nie nach vorne schauen können. Die Szenen mit den dreien sind großes Kino, sehr bewegend und gefühlvoll, aber auch Adam und Harry haben sehr starke, intime gemeinsame Momente, auch sie von großer Zwiespältigkeit, denn die neu gefundene und vor allem von dem scheinbar sehr viel mutigeren Harry angestrebte Lebenslust wird ständig unterlaufen von Ängsten und Verletzlichkeit und Unsicherheit.
Ich kann und will gar nicht so viele Worte machen, denn „All of us strangers“ will viel eher erlebt und erfühlt denn irgendwie erklärt oder beschrieben werden. Man sollte ihn einfach genießen – ich habe es getan. » (19.2.)