Alle die Du bist von Michael Fetter Nathansky. BRD/Spanien, 2024. Aenne Schwarz, Carlo Ljubek, Youness Aabazz, Sara Fazilat, Naila Schuberth, Sammy Schrein, David Hürten, Dagmar Sachse, Nadja Zwanziger

   Die Geschichte von Nadine und Paul, wie sie sich finden, wie sie um einander und ihre Existenz als Arbeitende im ständig gefährdeten Braunkohletagebau kämpfen und wie sie vor lauter Kampf am Ende die Kraft und vielleicht sich selbst verlieren, jedenfalls was Nadine betrifft. Diese Geschichte wird nun aber nicht gradlinig und übersichtlich sortiert erzählt, sondern sprunghaft, assoziativ, hin- und herspringend in den Zeiten und Phasen ihrer Beziehung, und dabei steht Nadines Wahrnehmung von Anfang an stark im Mittelpunkt, ihren Wirklichkeiten und Emotionen müssen wir uns anvertrauen, denn eine andere, vermeintlich objektivere Version wird es nicht geben.

   Das fängt gleich zum Auftakt mit einer höchst bemerkenswerten Sequenz an, die die tiefere Bedeutung des Filmtitels zu illustrieren scheint: Zum wiederholten Male muss Nadine ihren etwas labilen Paul aus einer akuten Angstattacke befreien, und sie hat es dabei hintereinander mit einer großen, trägen Kuh, einem kleinen Jungen, einem jungen Mann und einer älteren Frau zu tun, alles Sinnbilder dessen, was Paul jeweils für sie darstellt. Diese bruchlosen, scheinbar willkürlich erfolgenden Übergänge begleiten uns durch den gesamten Film, wobei der „echte“ Paul (in der Person Carlo Ljubeks) schon ein gewisses Übergewicht hat, aber dennoch fällt er zwischendurch immer wieder in eine der anderen Personen, und nur eine davon, nämlich die ältere Frau, strahlt die Ruhe und Sicherheit und Fürsorglichkeit aus, nach der sich Nadine sicherlich zwischendurch auch mal sehnt. Die anderen verlangen ihr wieder und wieder Stärke ab, appellieren an ihre Mutter- oder Beschützerinstinkte, solange, bis sie eines Tages merkt, dass sie ihren Paul nicht mehr liebt, obwohl sie allen tun wird, diese Liebe wiederzufinden. Sie ist einfach vollkommen ausgebrannt, leer, erschöpft, und die phänomenale Darstellung von Aenne Schwarz, die vielleicht die bewegendste ist, die ich bislang in diesem Jahr gesehen habe, bringt diesen Zustand greifbar, fühlbar bis in jede Faser zum Ausdruck. Zwischen Familienalltag und Berufsleben pendelt die Erzählung, das empfindliche Gleichgewicht angesichts des ständigen finanziellen Drucks, der Furcht vor Entlassung im Zeitalter der Abwicklung und der sogenannten Umstrukturierung. Auch auf Arbeit muss Nadine immer die Starke sein, sie entwickelt sich von der sperrigen, ruppigen Außenseiterin zur allseits geachteten Wortführerin, die sagt, wo es langgeht, die unentwegt Mut macht, aufrichtet, antreibt, und die auch hier irgendwann den Punkt erreicht, an dem sie sagt „Ich kann nicht mehr“. Arbeiterleben im Spätkapitalismus: Die einen resignieren, andere verwickeln sich in hilflose Scharmützel, wieder andere eben kämpfen bis zur totalen Erschöpfung. Nur um dann zu hören, dass es wieder neue Beschlüsse gibt. Diesem zermürbenden Malstrom können Nadine und Paul lange Zeit ihre Liebe entgegensetzen, und es ist die größte Tragödie mitanzusehen, wie diese Liebe unaufhaltsam zu schwinden scheint und es am Ende offen bleibt, ob die beiden sie jemals neu beleben können.

 

   Bei alledem ist dies kein erdrückendes Drama, sondern ein Film mit sehr viel Gefühl und Atmosphäre, der zu einigen ungewöhnlichen Mitteln greift (siehe oben) und der eben keinen souveränen und über den Dingen stehenden Erzähler präsentieren, sondern extrem dicht dran ist an den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit, der Nadines Subjektivität zum Sprachrohr für uns macht und der vor allem sehr viele unterschiedliche Nuancen beherrscht. Innerhalb des Dramas kommen Poesie, Humor, Zärtlichkeit, Verzweiflung und ein starker Familienzusammenhalt zur Geltung und bilden so einen sehr vielgestaltigen, faszinierend eigenwilligen Erzählton, der diesen Film zu einem der allerbesten deutschen Filme der letzten Jahre macht. ˜˜˜˜˜ (3.6.)