Was Marielle weiß von Frédéric Hambalek. BRD, 2025. Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler, Mehmet Ateşçi, Sissy Höferer

   Der ultimative Elternhorror wahrscheinlich: Dein Kind kann plötzlich alles sehen und hören was du tust und sagst. Ob du dich auf Arbeit vom Kollegen zum Sex auf dem Bürotisch überreden lässt oder auf der letzten Verlagssitzung eben nicht so cool und tough aufgetreten bist, wie du‘s abends deinen Lieben glauben lassen möchtest. Seit Marielle von ihrer Schulfreundin eine gescheuert gekriegt hat, sieht sie alles, jede kleine und große Lüge ihrer Eltern. Und das ist natürlich fatal, denn Julia und Tobias fühlen sich plötzlich total ertappt und durchleuchtet, all der kleinen Geheimnisse beraubt, die man so braucht, um durch den Ehe- und Familienalltag zu kommen. Entsprechend skurril sind ihre Strategien: Erst versuchen sie’s mit gnadenloser Transparenz und Offenheit, doch scheitern sie natürlich unweigerlich daran, und das einst recht harmonische Familienleben schlingert hart an den Rand des Abgrunds. Sie versuchen alle möglichen Manipulationstricks mit Marielle und bringen dadurch nicht nur ihr Kind in Not, sondern auch sich selbst, denn irgendwann merken sie: So sind wir eigentlich nicht und wollen so auch nicht sein. Dann erinnern sie sich plötzlich an den vermeintlichen Auslöser des Dilemmas, nämlich die Ohrfeige. Nun soll es eine weitere Ohrfeige richten, nur wer soll sie der Tochter verpassen? Paps als Familienoberhaupt wird an die Front geschubst, doch er kneift natürlich, also muss Mama ran und donnert ihrer Kleinen ordentlich eine. Die behauptet zwar nachher, alles sei wieder wie vorher, doch bleibt ein ungutes Gefühl, und besonders Mama lässt sich nix vormachen und ahnt, dass Marielle ihre unselige Fähigkeit ganz und gar nicht verloren hat.

 

   Der ultimative Elternhorror im Gewand einer fiesen kleinen Komödie, die unserem wunderschönen Ehe- und Arbeitsalltag satirische Spitzen verpasst und gottseidank davon absieht, eine Eskalationsspirale in Gang zu setzen – was sich bei dieser Prämisse durchaus angeboten hätte. Aber dazu sind Julia und Tobias einfach zu kultiviert, das hätte nicht zu ihnen gepasst. Okay, Julia lässt sich tatsächlich von ihrem Machokollegen vögeln und Tobias prügelt sich kurz mal in der Tiefgarage, aber das kommt alles schnell wieder in die Reihe, denn beide erkennen, dass zwischen Reden und Tun doch ein gewisser Unterschied besteht, und Julia eignet sich für die offene Ehe ebensowenig wie Tobias als Platzhirsch im Büro. Nur die Ratlosigkeit ihrer Tochter gegenüber bleibt bestehen, und hier schleichen sich dann auch mal ein paar dunklere, bösere Töne ein, die dem Film einen zusätzlichen Reiz geben. Das Drehbuch lässt in der zweiten Hälfte hier und da mal die Zügel schleifen, doch ein paar hübsch gemeine Kabinettstückchen (Julias Mutter gehört auch in diese Kategorie) sorgen immer wieder für amüsiertes Unbehagen. Die ausgezeichneten Schauspieler sorgen zudem dafür, dass die Figuren stets geerdet und im Hier und jetzt verortet bleiben. Ob das Ganze nun unbedingt ins Kino oder doch eher ins Kleine Fernsehspiel gehört, sei dahingestellt. Ich hatte anderthalb unterhaltsame Stunden, die mich mit dem innigen Wunsch entlassen haben, dass solch eine Geschichte nie, nie Wirklichkeit werden möge, denn wer könnte schon ohne seine kleinen Alltagslügen leben, oder anders gefragt, wieviel Wahrheit verträgt ein Mensch? ˜˜˜˜ (22.4.)